121: Flüchtlinge und Vertriebene – Ungebetene „Volksgenossen“ –1945/46 – die „Volksküche“

Dem Abriss der maroden BRK- Immobilien fällt (2011) auch das sog Schwesternwohnheim, „Kochstraße 1“, zum Opfer. Es handelt sich um das langgezogene Haus von der Kochstraße herkommend rechter Seite, wenn man in das Zentrum blickt. Es ist durch die „Seufzerbrücke“ mit dem alten Badgebäude verbunden. Früher, über die Zeit vor dem 1. Weltkrieg bis in die 1960er Jahre, wurde das Gebäude schlicht mit „Hs. Nr.10“ bezeichnet. Die Häuser in (Bad) Abbach waren insgesamt von hinten bis vorne einfach nur durchnummeriert[1]. In seiner momentanen Form und Ansicht entstand das Gebäude in der Zeit von Georg Koller bis Josef Platiel (1816 bis 1900). Vor ihnen befand sich dort die Bad-Brauerei und ein Erdgeschoss-Anbau mit 10 Zimmern. Hinter dem Haus existieren heute noch tief in den Berg reichende Kelleranlagen, deren Eingänge nach dem Abriss der vorderen Bauzüge wieder frei ansichtig sein werden[2].

Schwesternheim Kochstraße
Schwesternheim Kochstraße
Eingangstüre zum Schwesternwohnheim. Der Türstock aus Grünsandstein ist Denkmal geschützt. Oben  trägt er die Inschrift G.K. 1824 ( = Georg Koller 1824). Das Türblatt ist neueren Datums.
Eingangstüre zum Schwesternwohnheim. Der Türstock aus Grünsandstein ist Denkmal geschützt. Oben trägt er die Inschrift G.K. 1824 ( = Georg Koller 1824). Das Türblatt ist neueren Datums.

Von der Bedeutung des Schwesternwohnheims als Heimstatt der kroatischen Gesandtschaft in den letzten Kriegsjahren werde ich später einmal berichten.
An dieser Stelle will ich mich auf die triste Epoche beschränken, als das Haus Lager der ihrer Heimat entwurzelten Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen war, die 1945/46 dem Markt Bad Abbach ohne weitere Bedingungen und Begründungen zugewiesen worden waren.
Ihr Lagerleiter war der stattliche, selbst bewusste, umtriebige und redselige Arthur Schulz (*1894). Seine Frau Gertrud (*1899) unterstützte ihn in seiner aufopfernden Emsigkeit für die Landsleute. Er „herrschte“ 1946 über 60 erwachsene, durch politische und persönliche Schicksals Schläge und Wirrnisse gezeichnete Personen mit ihren Kindern, die allein in diesem Haus bis 1951 untergebracht waren[3]. Erst dann konnten diese Leute z.T. in die drei Gemeinde Häuser in der Gerhard-Hauptmann-Straße umquartiert werden.
Nachdem diese Menschenmasse (Trecks) in den eilig bereitgestellten Räumen nichts vorfand, womit sie sich hätte selbst versorgen können, Herde, Kücheneinrichtung, Sanitäres, wurde sie aus der Marken-gesteuerten Versorgung aus- und der Gemeinschaftsversorgung eingegliedert. Dazu gehörte vor allem die Gemeinschaftsküche, die im Schlachthaus der ehemaligen Metzgerei Josef Hof, in der Aumeiergasse (jetzt am Mühlbach) hinter der Bäckerei Lambert Nößner (jetzt Müller) vom Flüchtlingskommissariat eingerichtet worden war.
Dort war jeden Tag pünktlich zur festgesetzten Zeit Essensausgabe, wozu sich jeweils eine lange Menschen Schlange einfand, die sich geduldig und gehorsam der Köchin, Frau Neumann, und dem Koch, Herrn Berg, überlassen mussten. Arthur Schulz regelte mit militärischer Dominanz die disziplinierte Abfolge bis der rituelle Ablauf endlich gesichert war.
Es muss noch berichtet werden, dass der Flüchtlingsstrom und Zuwachs an Menschen den Einheimischen Abbachern, die selbst noch an den immensen Kriegslasten und Nöten zu leiden hatten, unbequem und lästig erschien. Die miserablen, verarmten Ankömmlinge, in der unseligen Hitlerzeit noch allumarmend „Volksgenossen“ genannt, waren auf die Einsicht, Menschlichkeit und Barmherzigkeit der Eingestammten angewiesen. Es gab außer den Hilfsbereiten hier zu Ort auch eine große Menge, die sich und das Ihre verbissen verweigerten, so lange sie konnten.
Gleich nach dem Krieg war man auch in Abbach noch nicht reif für die Einsicht, dass sich der Zuwachs neuer Menschen aus irgendwo zu einem genetischer Segen, einer Blutauffrischung entwickeln könnte. Außerdem bedachte man nicht, dass sich eine neue Vielfalt an Geschicklichkeiten, Ideen und Bräuchen einnisten wird, die uns bereichern sollte.
Dazu kam: Was an Denk-Unwürdigem die Erwachsenen dachten, redeten, laut zum Ausdruck brachten, übertrug sich auch auf die Gedanken und Reaktionen von uns einheimischen Kindern. Da verweilten und lebten unter uns plötzlich Leute, die man als Fremdlinge, ja Eindringlinge empfand! Dies zeigte sich besonders auch in der Schule, wenn die Kinder noch dazu evangelisch waren, was z .B. bei den Siebenbürgener Sachsen und den Vertriebenen aus den ehemaligen Siedlergebieten Österreich-Ungarns der Fall war „Verba docent – exempla trahunt!“( zu deutsch: „Worte belehren nur – das Beispiel regt zur Nachahmung an!“) – das ist ein alter Erziehungsgrundsatz . Oder: „Wie die Alten sungen – so zwitschern auch die Jungen“. Solches „Gezwitscher“ meiner selbst aus meiner Flegelzeit ist mir natürlich auch noch in Erinnerung. Glücklicher Weise gelingen Kindern neue Kontakte schneller und leichter als manchem Erwachsenen!
Letztere haben vielfach zu wenig bedacht, dass sich da nicht etwa in Schlesien oder Ostpreußen einmal eine Gruppe schnell auf die Reise begeben hätte, um dem schönen Bad Abbach, an der Donau gelegen, einen Besuch abzustatten. Aus welchem Zwang heraus sie zu Hause alles hinter sich lassen mussten, mag die folgende Geschichte erhellen. Sie zeigt, welche Katastrophen hätten passieren können, wenn die Menschen nicht geflohen wären.
Es scheint von weit hergeholt, wenn ich von der obigen Baugeschichte und der Schilderung der hiesigen Flüchtlingsproblematik zur Ursachenforschung in die Familiengeschichte abschweife. Aber ich wage es trotzdem:
Meine Mutter Franziska, geborene Schmidbauer, stammte aus dem Bauernhaus in Saalhaupt Nr.12, heute zu Bad Abbach gehörig. Es waren ihrer 12 Kinder, alles Mädchen bis auf einen Bub. Im Jahr 1939/40 begann die Reichsregierung nach der Enteignung der benötigten Gründe mit dem Bau der Autobahn von Regensburg durch die Hallertau nach München. Es war die „Organisation Todt (O.T.)“ am Werk und der in Saalhaupt gerade tätige Capo über sowohl Deutsche wie Fremdarbeiter und Häftlinge war Otto Tews (um die 30).
Sein oftmaliger Kontakt mit meinem Großvater, der damals in Saalhaupt das Sagen hatte, führte ihn auch mit dessen Familie zusammen.
Unglücklicherweise ließ sich meine sehr hübsche und allseits geliebte Tante Maria von ihm betören und folgte ihm in dessen Heimat Rügenwalde. Es war im Juni 1940, als fern der Heimat ohne jegliche Beteiligung von Angehörigen die Trauung stattfand.
Nur zu meiner Mutter, ihrer Schwester also, riss der Kontakt nicht ab. Man wechselte Briefe und telefonierte gelegentlich miteinander, so lange, wie der Kriegsverlauf es zuließ.
Den letzten Brief von Tante Maria fand ich nach dem Tod meiner Mutter in ihrem Nachlass und ich zitiere daraus, damit jeder sieht, aus welchen Ängsten und Motiven heraus, ja in welcher Todesangst, die Leute, die plötzlich vor unserer Haustüre standen, ihre Heimat fluchtartig verließen:
„Rügenwalde, den 22.11.1944
(…) Fannerl (meine Schwester Franziska war damit gemeint A.d.V.) fragt, wann ich wieder komme. Ja Kind, das kann ich heute noch nicht sagen. Vielleicht, wenn der Krieg aus ist, wenn wir dann noch am Leben sind. (…) Dieses Jahr wird wohl noch die Entscheidung fallen, ob wir siegen. Das müssen wir aber, denn sonst sind wir alle verloren. Hoffentlich kommt der Russe nicht nach hier! Ausgeschlossen ist das nicht. Ja, das ist dann wohl der Tod. Wir wissen noch nicht, was wir vor uns haben. Hoffentlich kommt Otto heil aus Opstpreußen heraus! (…)[4]“
Tante Maria wollte die Rückkehr ihres Mannes aus dem umkämpften Ostpreußen abwarten. Sie wollte nicht ohne ihn flüchten Das war das Todesurteil, dass sie über sich selbst verhängte! Sie war erst 25 Jahre alt, als sie starb!
Wie Otto Tews nach dem Krieg meine Mutter wissen ließ, wurde seine Frau von einem Rudel der hereinbrechenden russischen Soldateska hintereinander mehrmals vergewaltigt, bis sie dabei elend verstarb. Tews wusste später nicht einmal, wo und wie seine Frau begraben wurde.
Der Kontakt zu ihm riss vollkommen ab, weil die Familie ihm die Schuld für den traurigen Ausgang gab.
Einen anderen schmerzhaften Fall aus der Kriegs – und Nachkriegszeit haben wir noch nicht behandelt. Es geht um das Verhängnis der Vertreibung aus der Heimat, die einsetzte, als osteuropäische Nationalisten nach Einbeziehung der ehemaligen deutschen Reichsgebiete, wie Ostpreußen und Schlesien, der ehemals von der deutschen Wehrmacht besetzten Staaten, wie der Ukraine, Rumänien, Bulgarien und Ungarn, oder Protektorate wie dem Sudetenland, in das kommunistische Imperium Stalins an den meist Unschuldigen Rache nahmen.
Auch diese Menschen mussten nach ihrer Ankunft bei uns zunächst einmal erst aufgenommen, angenommen und allmählich integriert werden. Es war eine wirkliche Völkerwanderung die in den Wendejahren 1945/46 über unsere Heimat hereinbrach. Es waren unter ihnen Menschen von körperlichen und seelischen Verletzungen wie unvorstellbaren Wunden und Narben gezeichnet, die erst spätere Generationen überwinden konnten.
Ich schildere an dieser Stelle beispielhaft die Vertreibung der in Biskoschena/ Ukraine deutsch-stämmig geborenen, heute in Bad Abbach lebenden, 86 Jahre alten Olga Baaske, geborene Martschenko, verwitwete Hulak.[5] Sie lebte zuletzt in Krasowitsch/ Ukraine mit ihrem Ehemann Willi und ihren Schwiegereltern Markus und Theresia auf einer kleinen Hofstatt von 10 ha, und sie besaßen eine Kuh und anderes Getier, die der Familie ein bescheidenes Leben ermöglichten.

Photo vom 10.02.2011. (Kraus)
Photo vom 10.02.2011. (Kraus)

Mit dem Rückzug der deutschen Wehrmacht aus der annektierten „Kornkammer“ der Deutschen, der Ukraine, begann das verhängnisvolle Schicksal der Olga Hulak und ihrer Familie: Die Russen waren in das entstandene Vakuum nachgerückt, die Bauern wurden enteignet und Kolchosen errichtet. Im kommunistischen Sowjet Paradies herrschten bald Hunger, Seuchen und Verfolgung. Olgas Schwestern Nadia und Maria starben an Entkräftung und an der Ruhr. Es gab bisweilen nichts anzuziehen und zu essen War es ein Verhängnis oder doch großes Glück? Olgas Schwiegermutter Theresia war deutscher Abstammung Sie war in Siegenburg geboren worden. Nach Deutschland sollte sich die Familie daher retten, rieten die einen, dorthin, wo sie herkommen, solle sich die Sippe verziehen, drängten die anderen.
So entschloss man sich 1944, das Baby Valentina war am 14. Juli erst geboren, im September, vor Einbruch des Winters, den Aufbruch zu wagen. Wohin sollte die Reise gehen? In das Ungewisse, nach nirgendwo? – Nein, nach Teugn in Deutschland. Dort lebte eine Schwester der Theresia. Das war das Ziel. Das war aber keine bequeme Tagesreise!
Vorher musste man packen. Das Dorf Krasowitsch stellte einen Wagen zur Verfügung; vier Pferde umfasste das Gespann und eine Kuh begleitete die Truppe im Schlepptau. Man dachte noch fürsorglich an das Baby, das unterwegs Milch zum Leben brauchte.
Tisch und Stühle, Schränke und Geschirr für das zukünftige zu Hause mussten auf den Wagen, Futter für die Tiere, und Markus und Willi hatten im Geheimen als Proviant noch ein Schwein geschlachtet und eingepökelt. Das alles ließ anfangs trotz der drangvollen Enge die Hoffnung auf einen guten Ausgang offen. Ein Stück Heimat befand sich ja auf dem Wagen. Man musste vorerst nicht hungern und es wurde nicht einsam auf den maroden Wegen und in den morastigen Landstrichen der Ukraine, weil sich mehrere Schicksalsgenossen aus Krasowitsch in der Karawane befanden.
Die Angst vor russischen Partisanen trieb sie bisweilen auf zermürbende Umwege, auf denen das Stück Heimat auf dem Wagen zur Last wurde. Auch die klapprigen Pferde verließen die Kräfte. Und so warf man ein um das andere Stück Erinnerung, das für die neue Welt gedacht war, über Bord.
Erschöpft kam die fünf köpfige Familie vor dem Winter in Litzmannstadt (Lodz/Polen) an. Oftmals musste sie die Nächte auf Heu und Stroh in windigen und baufälligen Scheunen verbringen. Und da war die kleine Valentina; mit ihr hatte manche mitleidige polnische Seele Erbarmen und spendete Milch und andere Nahrung.
Aber hier war auch Schluss mit dem eigenen, inzwischen untauglichen Gefährt Man nahm der Familie den Wagen, die Klepper und die Kuh, drängte sie in einen Zug in Richtung Österreich, wo in Linderbrunn, nahe Wien, ein Lagerleben auf sie wartete. Aber auch da rückten die Russen näher und die Tiefflieger bereiteten ihre Ankunft vor.
Also drängte der Lagerkommandant zur Fortsetzung der Flucht nach Sonntagberg in Niederösterreich. Hier verbrachte die Familie den strengen Winter von 1944. Willi konnte als Helfer bei einer Bäuerin für Olga und Valentina ein Weniges gegen den Hunger tun. Aber leider nicht sehr lange. Er wurde zum Militär einberufen und an die russische Front geschickt. Olga, die wieder schwanger geworden war, musste er zurücklassen.
In der Ungewissheit über den Aufenthalt und das Schicksal des Vaters wurde das Kind Willi geboren. Was hielt den Rest der Familie da noch im Lager? Das Frühjahr 1945 schickte sie wieder auf die Reise. Per Zug ging es nach St. Pölten, aber ein Luftangriff zerstörte die Stadt und den Bahnhof. Den Hulaks blieb zwischen den Bombentrichtern und Ruinen fast nichts mehr übrig: Für die Oma ein Topf und eine Decke, für Opa der Rucksack, und für Olga die kleine Valentina auf dem Arm. Der auf der Irrfahrt geborene Willi war ihr zwischenzeitlich gestorben.
Einen Zug gab es zur Weiterfahrt nach Teugn vorerst nicht mehr, also ging es zu Fuß auf verschlungenen Wegen weiter nach Passau. Hier konnte man zum Glück wieder einen Zug besteigen, der die fünf Überlebenden wohlbehalten nach Bad Abbach-Bahnhof brachte.
Der Weg zum Ziel der Reise zu Fuß war bei der durchlebten Mühsal der vergangenen Zeit nur noch eine Kleinigkeit, wenn gleich sie alle ausgehungert und erschöpft vor der Tante Maria Haus in Teugn standen.
Nachdem im Jahre 1949 Gewissheit über den Tod Willis bestand – er war in der Ukraine an einem Magengeschwür gestorben – heiratete Olga Hulak 1952 den Georg Baaske. Er baute bis 1956 ein kleines Haus am Hebberg in Abbach, wo sich inzwischen viele Flüchtlinge und Vertriebene, auch solche aus dem Sudetenland, niedergelassen hatten Dann konnte man aus Teugn hierher ziehen und sesshaft werden. Olga kam mit einer neuen Familie zwar zur Ruhe, aber die Vergangenheit hat sie geprägt, das hohe Alter jedoch lässt sie vieles vergessen.
Das Schicksal der Olga Baaske erzählte ich als ein Beispiel der noch wenigen lebenden Zeugen für die Leiden von Mitmenschen mitten unter uns, die für die Verbrechen der Nazis in den besetzten Ländern zu büßen hatten.
Möge allen Menschen auf der Welt Gleiches erspart bleiben!
[1] Siehe Wählerliste von 1946 Archiv III.18.4.2.a.
[2] Archiv 8.2.2.(VII.1).
[3]. Wählerliste a.a.O.
[4] Aus dem Brief von Maria Tews an meine Mutter vom 22.11.1944. Privatbesitz.
[5] Interview mit Olga Baaske am 5.1.2011. Dobschenzki, Jennifer in MZ v. 4.5.2005: „Wir lebten von der Gutmütigkeit der Menschen“. Kopie .

Von |2022-02-28T13:55:40+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

122: Das Bad Abbacher Intermezzo der kroatischen Botschaft

Weil Bad Abbach gegen Ende des Krieges (1944/45) die kroatische Botschaft beherbergte, könnte einer auf die Idee kommen, als habe der Ort im 3. Reich diplomatischen Rang und überregionale politische Bedeutung gehabt. Eine solche Behauptung wäre reine Hochstapelei

  Bis etwa 1990 Hs. Nr. 10 ( jetzt Kochstraße 1)  Zustand am  22.02.2011   (nebenstehendes rotes Haus = Windl)
Bis etwa 1990 Hs. Nr. 10 ( jetzt Kochstraße 1) Zustand am 22.02.2011 (nebenstehendes rotes Haus = Windl)
Schesternheim Kochstraße
Schesternheim Kochstraße

In Wirklichkeit war Bad Abbach nur Zufluchtsort der Botschaft, wahrscheinlich gerade deshalb, weil es so unbedeutend war, und die Reichsregierung es vor Luftangriffen und vor der heranrückenden Ostfront für so sicher hielt wie die Orte der Kinderlandverschickung. Das Nobelste jedoch, was der Ort damals aufzuweisen hatte, Haus Nr.10 des Bad Hotels und das Hotel Waldfrieden, wurden Sitz der Botschaft.
In meiner frühen Jugend war ich als Nachbarsbub Zeuge, wie der Bad Abbacher Aufenthalt der kroatischen Botschaft Wohnwert mäßig vorbereitet wurde. Gewiss war man gegen Ende des Krieges allseits bescheiden geworden. Aber Hs. Nr.10 war eine alte Burg und für die Bediensteten der Botschaft unzumutbar. Hier mussten Heizungsinstallateure und Elektriker her und flugs tätig werden, weil die Zeit „ bis zum Endsieg“ drängte.
Die fremden Handwerker waren Kroaten. Sie schleppten lange Eisenrohre und andere Materialien herbei, die man zu dieser Zeit nur mehr mit Bezugschein oder auf dem Schwarzmarkt kapern konnte.
Ein emsiges Treiben von Männern im Zwirn und blauem Drill setzte ein. – Entwickelte sich Abbach gar zur Trutzburg für den Führer im Stadium des Endschlags? – Bürgermeister Georg Frank und Kreisleiter Albert Alzinger mischten sich in aufgeregte Gespräche auf der Straße. Der unwissende Beobachter konnte sich keinen Reim auf das Schauspiel machen, bis endlich eines Tages Klarheit bestand: Die kroatische Botschaft kommt nach Bad Abbach!
Wer in Bad Abbach weiß heute noch Bescheid über dieses Ereignis an einem wichtigen Wendepunkt der deutschen Geschichte?
Als einer der wenigen letzten Zeugen rette ich die ehemalige kroatische Botschaft in Bad Abbach offenbar vor dem Vergessen.
Dr, Jozo Dzambo, Mitarbeiter des Adalbert Stifter Vereins in München, bot mir authentische Hilfe für meine Arbeit an. Er begleitet die Wege des bedeutenden kroatischen Dichters Ljubo Wiesner (* Zagreb 1888 – + Rom 1951) literarisch und übersetzte dessen Manuskript „Zum ersten Mal nach Bad Abbach 14. III. 1945 – 9. V. 1945“ aus dem Kroatischen in die deutsche Sprache.
Er schrieb in einem Brief an Widmar Hader, den dieser an mich, einen möglichen Zeitzeugen, weitergab:
„Als im Frühjahr 1945 das Deutsche Auswärtige Amt (zumindest ein Teil des Amtes) nach Bad Gastein verlegt wurde, wurden auch Diplomaten anderer Staaten, die auf deutscher Seite kämpften, nach Bad Gastein „in Sicherheit“ gebracht. Ungarn, Japaner, Kroaten… versammelten sich in diesem malerischen Badeort, der aber bald von den Amerikanern besetzt wurde. (…). Wie die kroatische Diplomatengruppe nach Bad Abbach kam und wer diese Entscheidung getroffen hat, ist mir nicht bekannt. Offenbar war sie dort nur auf „Durchreise“ (…) Vielleicht hat man, zumindest in einigen Kreisen, den Bad Abbacher Aufenthalt als vorläufig betrachtet.![1]
Ein paar Sätze zur Geschichte der hier zu Ort eingerückten Kroaten seien mir zum besseren Verständnis noch erlaubt:
Während des 2. Weltkrieges proklamierten die in Jugoslawien einmarschierten Achsenmächte einen selbständigen Staat Kroatien mit der Absicht, die gesamte politische Opposition, z.B. Serben und Juden zu eliminieren. Die Kroaten kämpften im Krieg auf der Seite der Deutschen.[2]
Die Botschaft der Kroaten wurde in Berlin errichtet und der oben erwähnte Ljubo Wiesner, aus dessen Tagebuch-Manuskript ich zitieren darf, war während des Krieges Mitarbeiter dieser Botschaft. Offenbar fungierte er zeitweilig auch als Kurier zur Regierung in Zagreb.
Die Kroaten waren, wie es schien, in Abbach allgemein willkommen und als Freunde bei Jung und Alt geschätzt. Unter den Emissären der faschistischen Regierung in Zagreb waren bestimmt auch einige, die mit der hiesigen nationalsozialistischen Clique seelenverwandt waren. Nicht aber Ljubo Wiesner, der Autor meiner Quelle. Dies entnehme ich seinem Manuskript in der Übersetzung von Dr. Jozo Dzambo. Er war ein religiös eingestellter Mann, von traditioneller Frömmigkeit geprägt[3], mit einer gewissen Distanz zum Wahnsinn des „großdeutschen“ Nationalsozialismus..[4].
Hier sei ein Beispiel von der deutsch-kroatischen Freundschaft unter den jungen Leuten erwähnt:
Im Herbst 1944 fand auf dem damaligen „Turnplatz“ ( heute Rheumakrankenhaus am Kurparkbach) ein Fußballspiel „zwischen Abbach und Kroatien“ statt, ein spannendes und hartes Spiel. Ich selbst war als Zuschauer dabei. Am Ende stand fest: Sieg für Abbach! Bei aller Freundschaft kam es am Ende aber trotzdem zu einer Rauferei.
Auch Fritz Angrüner, den Abbachern als der Verfasser des Abbacher Heimatbuchs von 1973 bekannt, selbst Stütze der damaligen Abbacher Fußball-Mannschaft, kann sich noch an dieses Spiel erinnern.[5]
Wie das Spiel zu Stande kam, ist mir heute noch ein Rätsel. Fast alle jungen deutschen Männer über 16 waren ja in der Agonie des 3. Reiches zum Militär eingezogen, und auch den Kroaten konnten nicht gut 11 junge Leute am Ort als Fußballer zur Verfügung gestanden sein. Es mussten auf beiden Seiten Legionäre mit von der Partie gewesen sein, was mir persönlich aber damals kein Problem bereitete.
Und hier ein Beispiel, wie die Freundschaft unter Erwachsenen allmählich tiefe Wurzeln schlug:
Einer der kroatischen Installateure war Mirco Cvijic. Er und ein paar andere, z.B. ein gewisser Peter, dessen Nachname ich nie kannte, blieben nach dem Krieg in Abbach. Mirko heiratete die Kriegerwitwe Maria Ernst, geb. Ströbl. Bis zu seinem Tod ( + 27.05.2001) war Mirco in Bad Abbach angesehener Mitbürger.
Auch einige andere Kroaten verließen Bad Abbach nach dem Krieg nicht sogleich. Von Pilek sagt Wiesner: „Er wird vorläufig in Bad Abbach bleiben, dann will er nach Berlin, wo seine Frau herstammt. Auch das Ehepaar Draganovic bewegt sich nicht fort aus Bad Abbach.“[6]
Wie es Kroaten bekanntermaßen anstand, waren sie katholisch, und die Leute von der Botschaft praktizierten ihren Glauben auch öffentlich und sichtbar.
So lesen wir unter dem 15.IV. 1945, einem Sonntag, als der Kanonendonner der Amerikaner aus der Ferne schon dumpf über die Donau herüber zu hören war:
„Um 11 Uhr hätte eine feierliche Messe (statt am 10. April) in der Pfarrkirche neben dem Friedhof stattfinden sollen (wahrscheinlich hat Kovacevic den Pfarrer nicht richtig verstanden: die Messe wurde unten im Ort, in der Kapelle, gefeiert). Das ganze Botschaftspersonal in Bad Abbach hat sich um 11 Uhr auf dem Friedhof eingefunden und dort vor der Kirche vergeblich bis 12 Uhr gewartet. Ein schöner sonniger Dorffriedhof mit Ausblick auf die Donau und in die weite Umgebung.“[7]
Was sich in der so genannten „Sozialabteilung“ der Botschaft im Waldfrieden abspielte, was sich vollzog und was sich dort entwickelte, war uns gewöhnlichen Einheimischen unzugänglich und daher unbekannt Der Großteil des Botschaftspersonals befand sich im Bad Hotel Der Hauptsitz der Botschaft war aber, wie ich glaube, der „Waldfrieden“. Das Gebäude war mehr als heute in die malerische Umgebung versenkt und strahlte Ruhe und Frieden aus.
Vorher flickte man dort deutsche Lazarettinsassen für den weiteren Einsatz an der Front zusammen. Nur ab und zu schickte der Luftkrieg seine bedrohlichen Signale auch in diese Idylle.
Unter dem 16.IV. berichtet Wiesner: „Nachmittags haben wir vor dem Tunnel (Bunker) im Waldfrieden die Bombardierung von Regensburg beobachtet. Es war ein wunderschöner Tag. Um 3 Uhr nachmittags flogen über uns vielleicht zehn amerikanische Flugzeuggeschwader hinweg, und jedes von ihnen warf über Regensburg eine Signalbombe ab, die eine weiße, schaurige Spur hinter sich herzog. Kurz nach jeder dieser Bomben war von dort eine Serie gewaltiger Explosionen zu hören, und über der Stadt schoss an einigen Stellen, über die Häuser von Bad Abbach hin, roter und schwarzer Rauch auf. Es könnte etwa eine halbe Stunde gedauert haben, dann trat tödliche Stille ein.“[8]

Das Haus ist heute ,den 22.Februar 2011, noch im Besitz des BRK und  befindet sich in erbärmlichen  Zustand. Es wird ein Investor gesucht,  der Leben in den idyllischen Winkel bringen soll.
Das Haus ist heute ,den 22.Februar 2011, noch im Besitz des BRK und befindet sich in erbärmlichen Zustand. Es wird ein Investor gesucht, der Leben in den idyllischen Winkel bringen soll.
Waldfrieden
Waldfrieden
Von |2022-02-28T13:49:40+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

123: Die Abhängigkeit der Bildungsabschlüsse vom sozialen Status der Eltern – 1945 bis 1960

Es galt auch für Bad Abbach: Wenn Du keine vermögenden Eltern hast, oder solche, die zu extremen finanziellen Opfern bereit sind – das waren in Bad Abbach von 1945 bis 1957 höchstens 10 rare Ausnahmen – konntest Du an keine höhere Schule gehen. Das hieß in letzter Konsequenz: Später kannst Du an keiner Hochschule studieren! Mädchen waren am Gymnasium eine seltene Ausnahme. Wenn ich den damaligen Markt Abbach geistig auf- und abmarschiere und überlege, kann ich mich in der genannten Zeit nur an zwei junge Frauen aus besserem Hause erinnern, die im Besitz der Hochschulreife waren.
Vor 1957 war an eine staatliche Studienförderung nicht zu denken.
In diesem Jahr wurde im gesamten Bundesgebiet die Unterstützung nach dem sog. Honnefer Modell eingeführt.
Für dieses musstest du, aber erst an der Hochschule, die Bedürftigkeit und gute Leistungen aufweisen.
Je nach Notlage war die Unterstützung gestaffelt. Manchmal ging es bis zu ca. 500 DM monatlich. In den letzten Studienjahren bekam man das Geld nur mehr als Darlehen. Erst 1971 wurde das Honnefer Modell durch BAföG abgelöst.

Es ist vielleicht am authentischsten, wenn ich von mir erzähle, und wie ich selbst meinen Weg zum höheren Bildungsziel wirtschaftlich bewältigte. Ich war in gewisser Weise aber ein Sonderfall. Mutatis mutandis (= irgendwie) lief es aber allgemein auf ähnliche Weise:
1948 schloss ich die Volkschule mit einem sehr guten Zeugnis ab. Die Schulpflicht war nach 8 Jahren zu Ende. Ich konnte in der Bäckerei Nößner (heute Müller) meine Berufslehre als Bäcker beginnen. Es gab für Schulabgänger fast keine Lehrplätze. Meinen Traum, das Gymnasium zu besuchen, hatte ich ausgeträumt.
Da drängten mich einige Leute von hier längere Zeit, das eben erst betretene, neue Betätigungsfeld aufzugeben und meine Talente auf andere Weise zu nutzen.
Gab es nicht vielleicht Ausnahmeregelungen für Spätberufene? „Wenn du etwa Geistlicher werden wolltest? Dann findet dein Pfarrer bestimmt einen Ausweg für dich!“ Diesen Floh setzte man mir mehrmals ins Ohr, bis er wirkte.
Bestimmt regte sich in mir immer auch ein Bedenken: „Wenn sich dann aber im Lauf der Jahre herausstellt, dass mein Talent zum Abitur nicht reicht?“ – Um die Antwort waren die Ratgeber dann nicht verlegen: „Dann kannst du immer noch Lehrer werden. Man braucht auch christliche Lehrer. Man benötigt für die LBA (= Lehrerbildungsanstalt) kein Abitur. Wenn das Talent nicht reicht, ist es ein ehrlicher Grund, dass es mit dem Pfarrer nicht klappt. – Gott wird´s schon richten!“
Es war ein hoher Preis, den ich später zahlte, als ich mich auf diese Lösung einließ! Wie stand es hernach mit der versprochenen Hilfe? – Mein seliger Vater führte mir die Risiken vor Augen, aber ich war zu blind vor Begeisterung.
Von meinen Eltern konnte ich für ein Studium keine dauerhaften Zuwendungen erwarten. Gewiss haben sie mich im ersten Jahr nicht im Stich gelassen. Ich war im Schuljahr 1948/49 in den 1. Kurs an der Spätberufenenschule Hirschberg bei Weilheim eingetreten. Meinem Vater kam das im Jahr der Währungsreform auf stolze 80 DM monatlich zu stehen. Das bedeutete eine schwere Belastung für die übrige Familie. Darum bot Pfarrer Alois Lehner an, ein Jahr lang monatlich 30 DM beizusteuern. Nach diesem Jahr hätte ich zwei verlorene Jahre nachgeholt und könnte an eine andere, billigere Bildungsstätte wechseln.
So geschah es, indem ich die Aufnahmeprüfung am humanistischen „Alten Gymnasium“ in Regensburg für die 3. Klasse geschafft hatte. Ich war bereits 16 Jahre alt. Jetzt sollte ich, alt genug wie ich nun war, für mich selber sorgen.
Mit dem Eintritt in das Bischöfliche Knabenseminar Obermünster in Regensburg war der Anfang damit gemacht. Da gab es in den ersten zwei Klassen genug schwache Zöglinge, die mit den Fächern Mathematik und Latein Schwierigkeiten hatten. Man bildete für mich zwei Nachhilfegruppen mit je sechs Teilnehmern für zweimal in der Woche zum Preis von 50 Pfennigen die Stunde, die jeder zu zahlen hatte.
Das „Honorar“ wurde mir nicht ausgezahlt, sondern am Ende des Trimesters mit dem Kostgeld in Höhe von 180 DM verrechnet.
Wegen guter Leistungen am Gymnasium erhielt ich von der Albertus-Magnus-Stiftung ein Stipendium von 200 DM jährlich.
So musste mein Vater nichts oder nur wenig zuzahlen. Ich wollte nie jemandem zur Last fallen, oder von jemand abhängig sein.
Als ich in der 5. Klasse des Gymnasiums war, bewarb ich mich in den Ferien um den Posten des Aushilfspostboten in Wutzlhofen, eine Bahnstation hinter Regensburg. Täglich fuhr ich während der „Großen Ferien“ mit dem Fahrrad von Obermünster aus, wo ich letztere verbrachte, um 5 Uhr früh nach Wutzehofen zu meinem Einsatzort. Ich hatte dann einen schweren Botengang vor mir. Zu meinem Revier gehörten die Orte Grünthal und Hauzenstein und alle Einödhöfe 20 km im Umkreis. Hoch bepackt, Post und Pakete hinaus zu den Bauern. Neue Post herein! Der Graf von Hauzenstein hatte, wenn ich seine Post ablieferte, Mitleid mit mir, und spendierte mir ein Glas Milch und ein Wurstbrot, damit mich bis zum Dienstschluss die Kräfte nicht verließen. Hernach ging es mit dem Fahrrad zurück ins Seminar. Der nächste Tag folgte, wie gehabt. Das waren meine Ferien.
Während meiner Gymnasialzeit nahm ich während der Ferien jede Gelegenheit wahr, bei der ich mir ein paar Mark ergattern konnte. So lernte ich im Männerverein den Bürgermeister von Peising, Guts- und Gastwirtschaftsbesitzer Hans Kugler, kennen. Er war früher selbst Priesterschüler und hegte große Sympathie für mich. Er konnte mich für die bevorstehenden Erntearbeiten dringend brauchen und stellte mich als Erntehelfer (Arnschiassa) ein. Es war eine schwere Zeit und Arbeit! Schon der Weg per Rad nach Peising war lästig. Hinzu geht es immer bergauf. Gott sei Dank, ging es am Abend zur Heimfahrt nach getaner Arbeit nur bergab! Ich musste auf dem Feld hinter dem Schnitter, der noch mit der Sense das Getreide mähte, die Garben auslegen und binden. Als bei brennender Sommerhitze die Ernte eingebracht wurde, musste ich auf dem Feld die Garben mit einer Gabel aufspießen und auf den Wagen heben, wobei die Fuhre, die ein Pferdegespann zog, immer höher wurde. Bei der Gerste wurde ich zum Entladen in die Scheune abgestellt, wo es schrecklich staubte.
Während dieser Tätigkeit waren Mittag- und Abendbrot gratis. Mittags und Abends bekam ich auch eine halbe Bier. Den restlichen Durst löschte Wasser von der Leitung. Nach dreiwöchiger Erntearbeit verdiente ich mir damals 100 DM.
Gegen Ende meiner Gymnasialzeit suchte ich in den Ferien Arbeit beim BRK (Bayerisches Rotes Kreuz). Der Dienst war im Rheumakrankenhaus in Bad Abbach abzuleisten. Ich wurde als landwirtschaftliche Hilfskraft engagiert. Dabei war ich dem Obergärtner Jobst von hier unterstellt. Er war, wie er selbst bezeugte, ein ehemaliger SS-Mann und hatte sich seine Kapomanieren noch nicht abgewöhnt. Er war ungewöhnlich sarkastisch zu mir. Er ließ mich Tage lang im Bunker unter dem Bad-Hotel Kohlen schippen. Nur Kohlenstaub schlucken konnte ich, und nichts war mit Sonne und frischer Luft. Wenn es aber Dreckwetter hatte, musste ich bei der Anlage und Pflege von Spazier- und Wirtschaftswegen im Bereich der Schwefelquelle und zum Waldfrieden mithelfen.
Die Bezahlung war sehr schlecht und unangemessen, eben landwirtschaftlicher Tarif um den „Rotkreuzpfennig“ gekürzt. Dafür erhielt ich zu Mittag und Abend freie Verpflegung. Diese Arbeit nahm ich nur einmal an, dann nie wieder.
Es beschleicht mich heute noch Übelkeit, wenn mir ein Restposten neidiger Zeitgenossen nachsagt, sie hätten sich vor lauter Unterstützung für mich einen Kropf gehoben.
Zweimal im Jahr, zum Brünnlfest im September und nach der Christbaumversteigerung des Katholischen Männervereins am Tag des hl. Stephanus, bekam ich aus der Vereinskasse 100 DM. Dafür musste ich diesem und dessen Präses, Pfarrer Ludwig Meier, das ganze Jahr über als Standby für alles Mögliche zur Verfügung sein. Zur genannten Christbaumversteigerung musste ich alljährlich die „Festrede“ halten. Aus dem Erlös bekam ich die genannten 100 DM.
(Nebenbei sei erwähnt, dass mir der Verein zur Diakonenweihe das Brevier (= Stundengebet) um 500 DM kaufte, allerdings mit der Auflage, dass ich es täglich und bis zu meinem Lebensende für die lebenden und verstorbenen Mitglieder persolviere!)
Nach der 7. Klasse am Alten Gymnasium und im Seminar am Petersweg in Regensburg befanden meine Vorstände, ich sei nun reif genug, nach Weiden in der Oberpfalz umzusiedeln, um mich als Subpräfekt am Aufbau eines neuen Bischöflichen Seminars nützlich zu machen. Ich könnte mich dort nebenbei auf das Absolutorium am Humanistischen Gymnasium vorbereiten und die 40 Schüler einer Vorausklasse betreuen. Dafür sei ich dann frei von Kostgeld- und Mietzahlung. Ich ließ mich auf das Ansinnen ein, verbrachte in diesem Sinne die letzten zwei Jahre in Weiden als Aufsichtsperson, Nachhilfelehrer, Sportbetreuer, Klagemauer, Allrounder mit den mir anvertrauten Knaben im Jugendheim an der Naab, bis das neue Seminar eröffnet wurde. Es war das Jahr 1956, als ich das Abitur ablegte.
Ein Jahr nach meinem Wechsel an die Phil.-Theol. Hochschule in Regensburg und in das „Große Seminar“, das Priesterseminar am Bismarckplatz, bewarb ich mich sogleich um ein Stipendium nach dem sog. Honnefer Modell. Ich musste die Eingangs- und Eignungsprüfung ablegen, wonach ich monatlich 150 DM bekam – auch in den Ferien! Ich konnte es anfangs gar nicht fassen, dass ich nun ein kleiner Staatspensionär war. Von 1959 bis 1961 war das Geld auf Darlehensbasis, das ich nach der Primiz gleich wieder zurückzahlen konnte (ca. 3000 DM).
Nach der Meinung des Herrn Regens Karl Hofmann war ich auch der rechte Mann, den schlecht frequentierten Seminarladen im Klerikalseminar für die ganze Kommunität, und natürlich auch zu meinem eigenen Nutzen, wieder in Schwung zu bringen.
Im Seminar gab es für die Alumnen ja keinen freien Ausgang. Für Besorgungen musste man sich in eine Ausgangsliste eintragen. Könnten sich die Studenten ihren Bedarf im Seminar selbst decken, wäre das Ausmaß der Ausgänge reduzierbar.
Ich jedoch bekam unbehinderten und unkontrollierten Ausgang für den Einkauf beim Großhandel und eine Summe Startkapital, das zu amortisierten sei. Der Laden sei in einem Bogengang des ehemaligen Schottenklosters St. Jakob einzurichten und dort solle ich meine Talente wuchern lassen. Ich schaffte mir auch gleich ein gebrauchtes Motorrad Marke Puch als Transport- und Verkehrsmittel an und stellte es extraterritorial unter.
Meine ersten Gedanken galten dem Sortiment. Zu ihm gehörten Schreibwaren wie Hefte, Bleistift, Füller, Tinte, Ordnungsmappen aller Art und Briefpapier. Als Bezugsquelle wählte ich das einschlägige Großhandelsgeschäft Hinker & Dorfmüller am Kassiansplatz.
Sehr wichtig waren aber auch Toilettenartikel wie Zahn- und Rasiercremes, Seifen, Badezusätze, Rasierwasser, Parfums und wohlriechende Salben. Diese beschaffte ich in der Drogerie F.X. Müller am Neupfarrplatz. Hier lag die Gewinnspanne sehr hoch. Unmittelbar folgten jedoch die Textilien. Ich führte alle Verschleißartikel wie Socken, Unterhosen, Taschentücher. Im Sommer handelte ich mit Badehosen, im Winter mit warmen Schals und Baskenmützen, die Kleriker damals gerne trugen.
Am meisten verdiente ich, wenn ich die Schwester eines Alumnen zur Hochzeit ausstaffieren konnte. Diese benötigte Bettwäsche und Tischtücher, auch Unter- und Feinwäsche.
Wie sich leicht erahnen lässt, führte ich ein Sortiment, das nicht ganz im Sinne der Väter des Seminarladens war. Wer aber einmal von der Händlerleidenschaft ergriffen ist, den treibt sie zu immer neuen Expansionen!
Der zuverlässigste Geschäftszweig bestand in den Lebensmitteln. Täglich gaben die Herren Studenten in großer Zahl bei mir die Bestellung für Leberkässemmeln zum Haustus (= nachmittägliche Brotzeit um 16.00 Uhr) auf. Ich übermittelte Zahl und Größe der benötigten Ware an die Metzgerei Händlmeier in der Gesandtenstraße. Pünktlich um 16.00 Uhr stand dann den Herren Mitbrüdern der gewünschte Leckerbissen inclusive Essiggurke und Senf zur Verfügung. Ich hatte nur für den Transfer und das Inkasso zu sorgen.
Am Ende des 4. Semesters, vor dem Beginn der Theologie, wurde mir der Handel aber zur Last, und ich war froh, als ich mit dem Herrn Regens das letzte Mal abrechnen konnte. Ich notierte im Tagebuch: „Gott sei Dank, den Laden habe ich los! So bleibe ich davor bewahrt, eine Krämerseele zu werden. Fazit der Abrechnung: 530,85 Gewinn. 300 DM durfte ich behalten.“
Im 5. Semester, nach dem Abschluss der Philosophie (Admission) bewarb ich mich am neu errichteten Lehrstuhl für christliche Gesellschaftslehre (Prof. Franz Klüber) mit Erfolg um den Posten einer wissenschaftlichen Hilfskraft. Dort fungierte ich dankbaren Herzens als Famulus und „Kümmerer“ für den in Regensburg als Fremdling lebenden Professor.
Er kam aus dem fernen Rheinland und war über die Dienste eines Insiders besonders froh. Ich brachte ihn durch mein Bemühen für die erste Zeit seines Regensburger Daseins am Tisch des Seminars unter. Dafür konnte ich mir die vorgeschriebene Arbeitszeit von 1 ½ Stunden täglich in seinem Seminar einteilen, wie ich wollte. Ich musste vor allem bei den Seminarveranstaltungen Protokoll führen, die benötigte Literatur bestellen und einordnen und den öfter erkrankten Herrn Professor vertreten. Dafür erhielt ich monatlich 150 DM und die volle Zufriedenheit meines Herrn als Lohn. Im Jahre 1962 wurde ich sogar auf 200 DM aufgebessert. Das Geld aus dem Hochschuldienst war von 1958 bis 1962, dem Jahr meiner Priesterweihe, eine sichere, wenn auch schmale, finanzielle Basis.
Als Kaplan verdiente ich monatlich nur mehr 180 DM bei freier Kost und Wohnung im Pfarrhof.
Ab dem 6. Semester nahm ich zusätzlich, immer während der Semesterferien, die Verbindung zur Deutschen Bundespost wieder auf. Mein Vater war bei ihr außer seinem Schneidergeschäft als Postfacharbeiter (Zusteller) tätig. An seiner Dienststelle in Bad Abbach konnte ich während der ganzen Zeit meiner Semesterferien als Urlaubsvertreter für die ganze Mannschaft Verwendung finden. Es gab an unserer Post zu dieser Zeit vier Zusteller. Ich aber musste während meiner Anwesenheit immer nur den gleichen Postbotengang erledigen. Er begann mit den Häusern am damaligen Feuerwehrhaus (jetzt ev. Kirche) in Richtung Fuchsweg, Peising, Streicherhöhe, Eiglstetten, Peisenhofen, Frauenbrünnl und Weichs. Man musste alles noch per Fahrrad bewältigen. Die Briefkästen auf diesem Weg musste ich leeren. Dazu kam noch die sog. Abfertigung vor Schließung der Poststelle am Abend, nachdem das Postauto die Briefsäcke und Pakete für den Transport nach Regensburg aufgenommen hatte.
Den damaligen Job liebte ich sehr. Ich war viel an der Natur, begegnete vielen Leuten (leider auch bösen Hunden!), hatte viele Kontakte und Gespräche, erfuhr alle Neuigkeiten am Ort und aus der Umgebung. Dazu stimmte auch die Kasse. Steuern entrichtete ich als Werkstudent nicht. Aus dieser Zeit habe ich nur schöne, lebendige Erinnerungen bewahrt.
Wie man meinen Ausführungen entnehmen kann, musste man sich, wenn man im Leben etwas erreichen wollte, immer schon plagen. Unser einem flogen die gebratenen Tauben nicht in den Mund. Wenn man aber einmal mein Alter erreicht hat, war alles nur Episode und es blieb keine Reue zurück.

Dr. Kraus - Primiz 1962 - Promotion 1998 - Archivar 2000
Dr. Kraus – Primiz 1962 – Promotion 1998 – Archivar 2000
Konrektor und Rektor 1981 bis 1995
Konrektor und Rektor 1981 bis 1995
Von |2022-02-28T13:15:39+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

124: Übliche Wohnkultur in (Bad) Abbach bis zur Währungsreform (1948)

Der rapide Verschleiß von Einrichtungsgegenständen, wie er heute vielfach üblich ist, war vor 1948 unvorstellbar. Die Möbel waren „Handwerkerkunst“ und wurden über Generationen vererbt. In ihrer Eigenart empfand man sie in gewisser Weise als sakrosankt. Mit und unter ihnen lebten die Vorfahren in der Erinnerung weiter. Oftmals wurden sie zur Hochzeit neu angeschafft und sollten für das ganze Leben taugen. Wurden sie aber dennoch wackelig und hinfällig, konnte man sie reparieren. Erst nach der Währungsreform traten andere Sitten auf und man warf alles hinaus, was man aber heute bedauert.

Die Stücke ähnelten sich in den verschiedenen Haushalten und waren nicht sehr üppig, weil die Zivilisation in (Bad) Abbach eben auch nicht besonders positiv ausgeprägt war: Im Raum, in dem man lebte und hauste, stand ein Tisch mit gewöhnlich vier Stühlen, ein Küchenherd zum Heizen mit Holz und Kohlen, ein Büfett und ein Speisekasten. Die modernen Kühlgeräte waren noch nicht erfunden. Wenn die Raumgröße es zuließ, stand da an einer Wand auch noch ein Kanapee, auf dem man sich zur Ruhe begab, wenn die Zeit es zuließ. Über Letzteres will ich heute erzählen, weil sich die Jüngeren unter uns seine ehemalige Bedeutung nicht mehr recht vergegenwärtigen können. Die heutige Erzählung gehört jedoch eher in das Fach Volkskunde als Geschichte.
Wenn ich etwas weiter aushole, beginne ich folgender Maßen:
Bad Abbach liegt an der Grenze zwischen Niederbayern und der Oberpfalz. Heute bin ich Kosmopolit, und der Unterschied zwischen einem Niederbayern und einem Oberpfälzer macht mir nichts mehr aus. Ich heiratete sogar eine Oberpfälzerin und damit ist meine Liberalität mehr als bewiesen.
Vor 70 Jahren war es noch anders! – Ich sollte vielleicht nebenbei bemerken, dass ich jetzt 77 bin – da kannte ich mich nur in Niederbayern aus, und alles andere war Ausland, so entschieden Ausland, dass ich nicht einmal sagen könnte, ob es dort auch Kanapees gab.
Kanapee war irgendwie Statussymbol. Wir besaßen kein Chaiselongue, denn wir gehörten zum – historisch gesehen- dritten Stand. Unser Gegenstück hieß auf gut bayrisch Kanapee. Ein solches hatte ein dreifaches, genauer gesehen, sogar ein fünffaches leben:
Ein Überleben, ein Oberleben, ein Innenleben, ein Unterleben und ein Intimleben. Über Letzteres darf ich in unserem Zusammenhang diskreter Weise schweigen. Bezüglich dieses Punktes finden Sie – wenn sie wollen – detaillierte Aufklärung in Claude de Cribillion`s Bestseller „Das Sofa“.
Beginnen wir nach den Gesetzen der Baukunst mit dem Unterleben! Eine große, rötlich braune Kanapeedecke aus grobgewirkter Baumwolle, die oben und unten und auf der Vorderseite bis zum Boden reichte, breitete sich über das optisch dominierende Möbelstück. Auf der Hinterseite war eine Sichtblende überflüssig, weil das Kanapee an die Wand anschloss.
Der so gewonnene Raum unter der stets wohlgeordneten sichtbaren Ruheplattform verbarg schamhaft alle Gegenstände, die den möglicherweise verwöhnten Blick Außenstehender hätten stören können, aber im täglichen Leben unverzichtbar waren.
Flugs waren sie hinuntergeschoben und fanden Gesellschaft mit feingeputzten und ungeputzten Straßenschuhen, aktuellem und verflossenem Spielzeug, Holterdipolter- und Rumpelkram.
War ein Besuch zu erwarten, bedurfte es nur einiger Fußschübe, und peinliche Ordnung breitete sich über die ganze Stube aus.Die Stube, von der ich hier rede, war bei uns Wohn-, Speise-, Schneider- und Feierabendstube, Küche, Empfangssalon und Modekabinett. Darüber hinaus besaßen wir nur noch ein Schlafzimmer. Das war der gesamte Wohnkomfort meiner Kinderzeit.
Im Unterleben blieb gerade noch so viel Platz, dass ein nicht gerade üppiges Bürschlein, wie ich es damals war, ein eiliges Versteck oder Notquartier finden konnte, wenn es brenzlig wurde.
Von Zeit zu Zeit griff meine Mutter nach dem Besenstiel und räumte die unterirdischen Kostbarkeiten nach den drei offenen Seiten hin an das Tageslicht. Nicht selten entwischte Mama ein überraschter Aha- oder Erleichterungsseufzer, wenn schon längst Verlorengeglaubtes plötzlich wieder vorhanden war.
Einige Male war sie auf Papas Hilfe angewiesen, wenn wegen der Über- oder besser Unterfüllung der Platz unter dem Kanapee nur mehr mit vereinter Hub- oder Schubkraft bereinigt werden konnte.
Lüften wir jetzt die barmherzige Decke und bestaunen wir die stabile Handwerkskunst. Der Röhrl – Sattler richtete den vierbeinigen Holzkasten, den ihm der Hoffmannschreiner geliefert hatte, zu einem wahren Meisterstück der Handwerkskunst auf. Dazu verwendete er Drahtfedern, ca. 50 an der Zahl, je mehr, desto besser, ich habe sie nicht gezählt, Seegras und Sackrupfen und mehrere Knäuel Spagatschnur. Das Ergebnis war ein geruhsames und bequemes Sitzkissen oder Liegebett. Ein fester, aber doch ansehnlicher violett-brokatener Überzug verschaffte einen nach unserem Geschmack stilvollen Eindruck.
Mit den zitierten Bestandteilen und Beigaben ist das extravagante Innenleben angedeutet: Vom ersten Tage seines Daseins an quietschte das Kanapee verräterisch und nichts Gutes heischend, wenn mein schwergewichtiger Vater, ein Kunde oder Gast auf ihm Platz nahm und es sich gemütlich machte. Überhaupt im vorgerückten Alter, nach starker Überlastung durch uns übermütig auf ihm herumkabbelnde, – hüpfende, – turnende Kinder gab es keinen bequemen Ruheplatz mehr ab, sondern ließ all zu üppige Gesäße an manchen Stellen in tiefe Abgründe einsinken oder wegen der stechenden Drahtfedern wie elektrisiert hochschnellen. Solche Gefahrenzonen versuchte Mama oft durch Unterschieben einer Bügeldecke oder dergleichen zu überbrücken. Von Zeit zu Zeit aber, etwa jedes fünfte Jahr, konnte nur mehr mit Hilfe des Herstellers durch eine Reparatur das Überleben gesichert werden.
Kommen wir nun zum Oberleben, zu all dem, was in meiner Erinnerung an Erlebnissen auf unserem alten Kanapee lebendig geblieben ist:
Wir Kinder wurden von Mama auf ihm zur Ruhe gebettet und warm zugedeckt. Interessiert belauschten wir von dieser Warte aus das Geschehen in der Stube, bis uns die Müdigkeit den Sinn trübte und die Augen schloss. Später suchten wir dieses Refugium schon selbst auf und überließen uns der Müdigkeit und dem erholsamen Schlaf.
Im Krankheitsfall wurde hier das Kinderbett aufgeschlagen, und von Einsamkeit oder Verlassenheit fand sich keine Spur. Von Fall zu Fall streckte unser Vater an diesem Ort seine schweren Glieder aus und schnaubte und schnarchte vom Wirtshaus heimgekehrt einer unbeschwerten Zeit entgegen. Ich selbst ließ mich gerne zum Lesen auf das Kanapee nieder, zumal man das Kopfteil der liegenden oder sitzenden Stellung anpassen konnte. Dazu diente ein Scharnier und ein arretierbares Bogeneisen, die ich noch dem Innenleben zuzueignen neige. ( Das Kopfteil hieß vulgär Kopfhap`n [mit offenem a!] = Kopf + Haupt, eigentlich ein Hendiadioin!)
Ich sehe heute noch Menschen einer längst verblichenen Generation auf dem Kanapee sitzend aufgereiht. Sie unterhalten sich angeregt und plaudern munter, während mein Vater an der Nähmaschine oder auf dem Schneidertisch sitzend ungestört seine Arbeit verrichtet.
Auch mein einzig geliebtes Hündchen Waggerl nahm hier oft neben mir seinen Platz, ob ich dasaß oder dalag, drückte sich an mich, versuchte mich zu liebkosen oder abzulecken. Hier hauchte er auch seine noch so kindliche Hundeseele aus, nachdem er sich bei einem all zu waghalsigen Sprung von einem Felsen bei den Löwen (= ein Denkmal an der Donau vor der Ortseinfahrt von Kelheim her) den Großteil der Knochen gebrochen hatte. Ihm war nicht mehr zu helfen, obwohl ich alle Mächte des Himmels und der Erde für ihn aufbot.
Auf dem Kanapee spielten und rauften wir, meine Schwester und ich. Dort schnipselten wir die Musterfleckerln aus der Werkstatt unseres Vaters und stritten uns um die schönsten Farbmuster. Einmal stach mir an diesem beschaulichen Platz meine Schwester unachtsamer Weise eine Schere in das Knie, woran mich noch heute eine große Narbe erinnert. Einmal rächte sie sich an mir für ein nicht mehr bekanntes Vergehen, indem sie mir während eines seligen Schlafes einen Schuh über den Kopf knallte, den sie vorher aus der schon bezeichneten Tiefe gezogen hatte. Heute ist sie schon tot meine Schwester, leider vor mir, obwohl sie jünger war als ich. Ist das die Strafe für das damalige Verhalten? Ich hatte es ihr doch schon längst verziehen!
Das Kanapee war ein Platz zum Lachen und zum Weinen, zum Reden und zum Schweigen, zum Warten und zum Entscheiden, zum Leben und zum Sterben.
Irgend wann musste es nach drei Umzügen und nach der Währungsreform dem modernen Leben und gehobenen Ansprüchen weichen. Eine Couch nahm seine Stelle ein und verdrängte es in das Gartenhaus, wo auch die Mäuse seine Gäste wurden. Kein Möbelstück konnte ihm aber je wieder das Wasser reichen, und ich selbst denke oft mit Wehmut zurück an unser altes Kanapee in der warmen Stube, wenn ich todmüde bin.

Von |2022-02-28T13:09:24+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

125: Romantik und Mühsal in (Bad) Abbach vom ersten bis nach dem zweiten Weltkrieg

Es ist schon lange her, als es mich einmal wie von einem Magneten angezogen zu einem Baumveteranen auf der „Plös“[1]zog. Ich benutzte damals noch einen altbekannten Schleichweg über die Schwefelquelle, den Hartlhof, den „Schirm“ und die Waldungen über den Felsen beim Löwendenkmal.

Schirm
Schirm

Dieser Tage erreichte ich das Ziel schneller und einfacher mit dem PKW über die Straße zur Siedlung auf dem Mühlberg.
Beide Male war das Objekt meines Interesses ein windverdrehter, uralter Birnbaum inmitten eines weiten, brachliegenden Hochplateaus. Ganz einsam steht er zur Zeit da, nur in Gesellschaft von neu erwachendem Löwenzahn und Brennnesseln und anderem Wildwuchs auf einem ansonsten brach liegenden weiten Flurstück.

Es handelt sich um einen Zuckerbirnbaum, der nicht von ungefähr hier steht und seine knorrigen Arme Tag und Nacht der Sonne, dem Regen und Sturm entgegenstreckt. Früher behauptete er sich in einer Gesellschaft, die längst das Zeitliche gesegnet hat. Der einsame Veteran hat sich auch eine erstaunliche Vitalität bewahrt. Auch heute trägt er im Herbst noch Zuckerbirnen, wie er sie schon den Kindern meiner Väterzeit darbot. Um die 100 Jahre dürfte er auf dem Buckel haben und diese lange Zeit hat er nur überdauert, weil der jeweilige Jagdpächter dieser Flur eine Stütze für den Hochsitz brauchte.

Baum
Baum

Dies lassen die vielen, sogar noch handgeschmiedeten Nägel erahnen, die sie in den Stamm getrieben haben. Die fortschreitende Industrialisierung lässt sich von ihnen ablesen:
Die geglätteten Eisenbolzen stammen aus der Esse des Schmieds Engelmann (später Lindinger, am Markt); ihnen folgten serienmäßig hergestellte Nägel, wie man sie bei jedem Fragner (= Gemischtwarenhändler) kaufen konnte.
Alle hinterließen sie handgroße Narben vom Boden bis zur Krone, wo noch bis vor kurzem ein morsches Sitzbrett liegen geblieben war.
Von diesem Platz aus lässt sich jedes scheue Reh und jeder lauschende Hase ausmachen, was dann ihr Schicksal bedeuten könnte.
Die Gegend hier war früher parzelliert und lag unter der Harke einiger Abbacher, die zwar ein Haus, aber wenig Grund und Boden in seinem Umkreis besaßen.
In unserer Familiengeschichte entdeckte ich einen Pachtvertrag zwischen meinem Großvater und dem Markt Abbach, demzufolge er eine Parzelle bewirtschaftete. Was dort nach seinem Willen und mit dem Segen Gottes spross und gedieh, ist mir durch meine Großmutter überliefert worden. Sie hat im hohen Alter noch darüber geklagt, wie sie sich schinden musste, wenn sie noch um 1925 das Gießwasser aus der Kuhtränke bei der Ziegelei (Scheider) mit dem Schubkarren über den steinigen Bergweg zum Pflanzbeet schieben musste. Heimwärts, wobei es nun bergab ging, lud sie auf den Schubkarren noch ein Fuder Gras, das sie von den Wegranken mit der Sichel schnitt, für die zwei Ziegen, die zuverlässig die Milch für ihre Kinder lieferten. Freudig erinnerte sie sich auch, wie sie im Vorübergehen immer auch ein paar Zuckerbirnen vom oben erwähnten Baum in die Schürzentasche stecken konnte, wenn sie gerade zeitig waren, und sie oder die Kinder nach ihnen Appetit hatten.
Während ich mir bei meinem letzten Besuch (März 2011) – in Gedanken natürlich und in meiner Phantasie – die süße Frucht im Mund zerrieb, reichte mein Blick rings herum bis zu den Horizonten. Dort sah ich Oberndorf, Lohstatt, Kapfelberg, Poikam, Berge um Kelheim; nach Süden hin Eigelstetten, Streicherhöhe, Frauenbrünnl, Peising und die Heidfeldsiedlung in Bad Abbach.
Eine Verbindung aus der Einsamkeit der Anhöhe zu den Häusern und Menschen im Tal ist der Weg zu den Stinkelbrunnen, wie die Schwefelquellen früher genannt wurden. Von dort her musste ja wohl meine Großmutter, seltener mein Großvater, den Schubkarren von der Kellerwirtschaft (der Dirigl-, später Schreinerwirtschaft), wo Großvater Wirt war, später vom Kochzipfl, und noch später von der Mitte des Marktes aus geschoben haben. Dort befand sich nämlich aufeinander folgend ihr Domizil in dieser Zeit.
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“(Genesis). Dieser Bannspruch Gottes im Paradies war den Menschen in der sog. „guten alten Zeit“ noch gegenwärtiger als uns Heutigen. Auch mir selbst wurde diese Wahrheit immer eindrucksvoll präsent, wenn ich an den alten Schubkarren, der noch ewig bei uns zu Hause herumstand, in den Blick bekam. Ich trage ihn als guten Helfer in Erinnerung. Zuletzt sehe ich ihn vor meinem geistigen Auge auf einem Erdhaufen, dem Kelleraushub zu unserem letzten Haus. Ich selbst sitze darauf, als ob ich ihn liebevoll hätscheln wollte. Ich denke über die Mühen meiner Großeltern und Eltern nach und denke mir, dass sie nun ihre ewige Ruhe gefunden haben.

Auf dem Bild befinde ich mich selbst im Jahre 1963 auf dem Schubkarren in unserem Garten an der Römerstraße sitzend.
Auf dem Bild befinde ich mich selbst im Jahre 1963 auf dem Schubkarren in unserem Garten an der Römerstraße sitzend.

Aus volkskundlichen Gründen möchte ich zum Vergleich noch ein ähnliches Transportmittel aufführen. Die Maurer nannten es „Rawern“, und sie schoben in ihr den frischen Mörtel von der Mörtelpfanne zur Arbeitsstelle eines Maurers.
Die Person ganz rechts im folgenden Photo bin ich im Alter von 17 Jahren[2] Ich half im Sommer 1950 bei den Aufräumungsarbeiten bei der zerstörten Obermünsterkirche in Regensburg. Diese wurde am 13.03.1945 bei einem Bombenangriff auf die Stadt vernichtet. Mein Transportgerät war also kein Schubkarren, sondern eine „Rawern“. Das am Photo fehlende eisenbereifte Holzrad muss man sich im Bild oben wie unten hinzudenken.

Die Studenten bei den Aufräumungsarbeiten
Die Studenten bei den Aufräumungsarbeiten

[1] Plös = Flurbezeichnung in Bad Abbach. Eine Brachfläche auf dem Mühlberg.
[2] Aus Vieracker, Christian. Das Bischöfliche Studienseminar St. Wolfgang in Regensburg. Universitätsverlag Regensburg. Regensburg 1999, S. 120.

 

Von |2022-02-28T13:07:26+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

126: Kultische und reale Säuberungen in der Karwoche im alten (Bad) Abbach

Im Leben eines christ- katholischen Abbachers galten früher (bis in die 1960er Jahre) – Evangelische waren Mangelware – nicht nur die 10 Gebote Gottes als Richtschnur für das Leben, sondern auch die fünf Gebote der Kirche. Sie nicht einzuhalten, galt bei der zuständigen Obrigkeit als Inobedienz, d.h. als schwerer Ungehorsam, der im Extremfall nach dem Tod den Verlust der Seligkeit zur Folge hätte.
Das vierte Kirchengebot zitiere ich zur Erinnerung ( und es lautet eigentlich immer noch so) : „ Du sollst wenigstens einmal im Jahr deine Sünden beichten! Das fünfte „Du sollst wenigstens einmal im Jahre die hl. Kommunion empfangen und zwar in der österlichen Zeit!“[i]

In Befolgung dieser religiösen, (früher auch bürgerlichen) Pflichten, standen in der Karwoche Stunden lang nicht abreißende Menschenschlangen vor den Beichtstühlen in der Markt- und Pfarrkirche. Jeder Katholik musste in den saueren Apfel beißen, sein Hirnschmalz aufwühlen, um in seine finsteren Seelenwinkel einzudringen, ob er nicht doch … usw. Mancher hatte echte Schnitzer auf dem Kerbholz, die er sich für die Karwoche zur Eliminierung aufgehoben hatte. Hatte er keine, erfand er das Übliche.
In der Karwoche „saß“ in der Regel auch ein „fremder Herr“ ( = nicht der eigene Pfarrer), der einem das Bekenntnis leichter machte, oder man fuhr einfach zu den Karmelitern nach Regensburg, die einen nicht kannten.
Mir persönlich war die Sache als Bub zwar auch unangenehm, aber ich hatte vor dem örtlichen Pfarrer keine Bedenken, weil er von mir so wie so alles schon wusste. Es war mir höchstes der Umstand peinlich, dass ich gestehen musste, dass ich als Ministrant aus der Messweinflasche „genascht“ habe.
Als Ausgleich hielt ich es für ein außerordentliches Werk der Frömmigkeit, wenn ich mit einem Putztrupp von Frauen in der Karwoche mithalf, die Glocken und die Glockenstube auf dem Kirchturm wie die ganze Kirche und das Inventar zu reinigen. Einmal im Jahr musste es ja geschehen, droben in der „großen Kirche“, wie drunten in der Marktkirche.
Was sich da an Taubendreck, Spinnweben und Undefiniertem angesammelt hatte, spottete jeder Beschreibung. Die Expedition fand deshalb in der Karwoche statt, weil in ihr die Glocken aus Trauer für den leidenden Heiland immer schon schwiegen.
Zum Osterfest sollte jedenfalls alles in göttlichem Glanz erstrahlen. Ich persönlich schrubbte am liebsten mit dem Reisigbesen in der Glockenstube auf dem Turm um die Glocken herum. Ein Staubsauger für das Gebälk war noch nicht erfunden. So wirkte ich eher als Staubaufwirbler. Manchmal trieb ich es so toll, dass dem Schneider und Mesner Xaver Engl die Luft weg blieb. Ich selbst hinterließ hernach den Eindruck, als hätte ich an einer gerade erst erfundenen Dreschmaschine als Heizer an der Dampfmaschine gewirkt.
Ich aber war davon überzeugt, dem gekreuzigten Heiland das Leiden ein wenig gemildert zu haben, wofür er mir schon den Staub von meiner Seele wegblasen könnte. Nur dann könnte ich am bevorstehenden Osterfest mit dem göttlichen Herrn fröhlich Auferstehung feiern.
Vorher fand jedoch zu Hause bei Mama in der Badewanne, einer großen, runden, blechernen und in einer mit dem Wasserkübel eingefüllten Seifenlauge – einen Anschluss an die örtliche Wasserleitung hatten wir im Haus Nr. 13 vor Kriegsende noch nicht – und unter der Wurzelbürste der Mutter das Fest „Mariä Reinigung“ statt, ganz außerhalb der Reihe des liturgischen Kalenders.
Und wie erlebe ich, und wie erleben die meisten Leute heute das Osterfest, und wie bereiten wir uns heute darauf vor? – Ja, wir sind ein säkularisiertes Volk geworden. Wenn wir doch wenigstens unseren Kindern und Enkelkindern, oder gar einem Kind einer alleinerziehenden Hartz IV Empfängerin mit einem Osternest eine Freude machen würden!

Osterbrunnen des Obst- und Gartenbauvereins (OGV) 2011
Osterbrunnen des Obst- und Gartenbauvereins (OGV) 2011

[i] Großer Katholischer Katechismus. Kösel Verlag München .München 1948, S.205.

Von |2022-02-28T13:00:01+01:0028. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

127: Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh……[i]

Der Kursaal war seit Menschengedenken das kulturelle Zentrum des Marktes (Bad) Abbach.
Als in den 1950er Jahren das Rote Kreuz mit dem Versprechen von Arbeitsplätzen die (Bad) Abbacher Administration zu allerlei baulichen Zugeständnissen anstiftete und das Ortsbild verschandelte, lief dem äußeren Anschein nach zunächst alles bergauf, aber in Wirklichkeit unbemerkt den Berg hinunter.
Als die sog. Gesundheitsreform den Geldsegen für den Kurbetrieb eintrocknete, machte sich das Rote Kreuz in Bad Abbach aus dem Staub und ließ uns im Regen stehen. Das alte Badhotel und insbesondere der alte Kursaal gerieten mit den Jahren in die Bedeutungslosigkeit. Die Räume durften von der Abbacher Öffentlichkeit nicht mehr genutzt werden, standen verwaist nur im Weg und gerieten deswegen wie hässliche Ruinen in Vergessenheit. Nun muss alles abgerissen werden, damit das Areal leichter vermarktet werden kann. Aber was soll daraus werden? Jetzt kann der „Lenkungsausschuss“ seine Schuhgröße, d.h. seine Kreativität unter Beweis stellen.
Kommt wieder ein Investor, dessen Atem nur für ca. 60 Jahre reicht? Kohlstatt 1844 bis 1910. Zementfabrik in Alkofen 1870 bis 1930! BRK 1949 bis 2004!
Eine begründete Forderung der gelackmeierten Bevölkerung : Jetzt bitte mehr Nachhaltigkeit!
Ein Plakat von 1895, als noch alles heil schien:

Plakat aus dem Jahr 1895
Plakat aus dem Jahr 1895

Bilder, die den Abriss dokumentieren 2011

Fotos Abriss 1. Teil
Fotos Abriss 1. Teil
Fotos Abriss 2. Teil
Fotos Abriss 2. Teil
Fotos Abriss 3. Teil
Fotos Abriss 3. Teil
Fotos Abriss 4. Teil
Fotos Abriss 4. Teil

27.04.2011 – Es ist vollbracht!

Es ist vollbracht - 27.04.2011
Es ist vollbracht – 27.04.2011
Das alte "Bad" und der historische Kursaal sind nun geschleift. Ein Teil unseres kulturellen Erbes ist unwiederbringlich dahin! "Gone with the wind!"
Das alte „Bad“ und der historische Kursaal sind nun geschleift. Ein Teil unseres kulturellen Erbes ist unwiederbringlich dahin! „Gone with the wind!“
Von |2022-02-22T17:53:38+01:0022. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

128: Bevor die Plaste dominierte – Kindliches Ernstspiel in Bad Abbach vor und nach dem zweiten Weltkrieg (Teil 1)

In der Spielzeugkiste meiner Kinder (* 1969 und 1973) lagerten vornehmlich noch Spielsachen aus Blech, Holz und Textilien. Bei meinen Enkelkindern herrscht leider schon ein Überschwang an Plastikgerümpel, das man vor Kurzem nicht auslassen durfte, das aber bald darauf keiner mehr anschaute, weil schon die nächste „Kostbarkeit“ winkte.
Natürlich gibt es auch heute in seltenem Maße pädagogisch Wertvolles, was bildet und Fähigkeiten wie Fertigkeiten generiert. Aber da muss man schon fleißig suchen, gut überlegen und sich fragen, ob es das Geld wert ist.
Zu meiner Kinder- und frühen Jugendzeit standen vor allem die Rohstoffe, Steine, Erde, Holz, seltener Blech als Werkstoff zur Verfügung. Dann galt: Sieh zu, was du daraus machst. Die vorhandene kindliche Kreativität stand auf dem Prüfstand. Talentierten Kindern wurde es nie langweilig. Ihre Schöpferkraft brachte oft Sonderbares und Wunderbares hervor. Von der Spielwarenindustrie wurden nur wenige, oft von der Politik missbrauchte Artikel, konfektioniert.

Ich erzähle vielleicht besser von eigener Erfahrung.. Weil damals noch eher jeder ein Unikum war, möchte ich meine Erlebnisse nicht verallgemeinern.
Als Bub lebte ich mit der Mutter und meiner Schwester hier in Abbach in der Hauptstraße 13 zur Miete. Mein Vater war im Krieg, und so erwachte in mir früh der männliche Fürsorgetrieb. Ich erbat bei Verwandten und Bekannten in deren Garten ein Pflanzbeet für dieses und jenes. Es war mühsam und zeitfüllend, alle diese Flecken reihum zu versorgen. Ich säte und pflanzte hier rote und gelbe Rüben, dort Zwiebeln und Petersilie und anderes Suppenzeug. Ich hatte zu tun, dass ich den Überblick behielt, die verschiedenen Plätze sauber zu halten, zu wässern und nach dem jeweiligen Bedarf abzuernten. Auch musste ich durch Zuverlässigkeit und Großzügigkeit den jeweiligen Gönner bei guter Laune halten.
Wen nimmt es wunder, wenn ich das Verlangen hatte, auf einem eigenen Stückchen Erde das Werden und Vergehen in der Natur von der Aussaat bis zur Ernte zu erproben.
So nahm ich einmal ein recht eigenwilliges Werk in Angriff, schleppte unbemerkt kübelweise guten Ackerboden über die Speichertreppen im Bäckerhaus Nößner (jetzt Müller), wo wir zur Miete lebten, und schüttete sie durch ein Dachfenster in die Dachrinne zwischen den Hausnummern 13 und 14, von hinten bis vorne. Und dort, zwischen Himmel und Erde konnten die ausgestreuten Weizenkörner ungestört vor fremden Blicken keimen und sprießen, wachsen und reifen bis zu dem Tage, wo in den darunter liegenden Räumen die Wände hüben wie drüben nach Regengüssen braune Flecken bekamen.
Die Hausbesitzer diesseits und jenseits machten sich schließlich auf die Suche nach der Ursache, und der himmlische Friede war dahin, als sie die wogende Pracht zwischen den Giebeln entdeckten.
So viel Phantasie trauten sie leider nur mir zu, weshalb es unverzüglich für mich Watschen setzte. Es verlangte große Anstrengung, die mächtige Traufe von der Mutter Erde zu befreien und zu reinigen.
Die Architektur war damals noch nicht so weit entwickelt wie 30 Jahre später, als sich Friedensreich Hundertwasser (eigentlich Friedrich Stowasser) im deutschen Sprachraum für Dachbewaldung und individuelle Fassadengestaltung einsetzte. Heute würde ich für meine Leistung vielleicht einen Preis bekommen.
Es ist eine Erkenntnis in meinem Leben gewachsen: Früher war ich der Zeit immer etwas voraus. Heute meint die familiäre Umgebung, dass ich mit der Zeit nicht mehr ganz mitkomme. Wie sich die Menschen um mich ändern!. Der Lateiner sagt : „ Tempora mutantur, nos et mutamur in illis!“ („die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen!“)

Ortsmitte von Osten
Ortsmitte von Osten
Von |2022-02-22T17:43:45+01:0022. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

129: Im Rausch der Geschwindigkeit – Kindliches Ernstspiel in Bad Abbach vor und nach dem zweiten Weltkrieg (Teil 2)

Die Nation ist beeindruckt von der Leistung eines Automobilrennfahrers in der Formel 1. Von der Leistung eines Sebastian Vettel aus dem Red Bull Rennstall zum Beispiel. Man scheut sich vor dem Vergleich mit dem Blitz, aber doch gibt es ähnliche Assoziationen.
Wir Älteren sind vom Fortschritt der Technik besonders beeindruckt, weil wir aus einer Welt kommen, wo der Ausdruck „mit 100 Sachen“ noch den Inbegriff der Höchstgeschwindigkeit darstellte.
Die heutige junge Generation kann sich das vermutlich nicht vorstellen, dass die Zeit gar nicht so weit zurückliegt, in der die zitierte Vorstellung galt. Um 1937 gab es in Bad Abbach höchstens fünf Automobile. Das waren die KfZ- Händler Hagl und Kötterl, der Landarzt Dr. Franz Schmitz, der Fahrgast-Unternehmer und Gastwirt Petschko und ein zweiter ortsansässiger Arzt. Hans Englmann, sen.war Lastwagenbesitzer. Er baute sein Lastauto noch während des Krieges für den Antrieb mit dem Holzvergaser um und musste ihn nicht für den Kriegseinsatz abliefern, weil er für die Versorgung der Bevölkerung mit Holz und Kohlen und für den Milchtransport von den Bauern zum Milchwerk in Regensburg unverzichtbar war.
Es ging auf den Innerortsstraßen von Bad Abbach nicht wie heute auf der Raiffeisen- oder Kühbergstraße zu. Es kam bis nach dem Krieg höchstens jede Stunde einmal ein Auto vorbei , und dieses brachte es bei Gott nicht auf 100 km/h. Und nur die ganz großen Bauern besaßen einen Bulldog. Das war der ganze Stand der Motorisierung.
Vor diesem Hintergrund waren wir damals drei rührige Altersgenossen, Hans, Albert und ich. Der 1500-köpfigen Einwohnerschaft waren wir wegen unserer „Kreativität“ allseits bekannt. Wir hielten es für ein Geschenk des Himmels, als uns der Vater von Albert mit dem Leiterwagen nach Graßlfing schickte, um bei Gradl ein Paar Spanferkel zur Aufzucht zu holen. Man muss wissen, dass sich viele Hausherren, sofern sich dafür Platz fand, zur besseren Versorgung der Familie mit Fleisch und Wurst ein oder zwei Schweine hielten.

Schlachtkarte
Schlachtkarte

Der verfügbare Leiterwagen war kräftig und etwa zwei Meter lang. Er besaß eine stramme Deichsel. Ein schwerer Saugatter fand auf dem Wagen bequem seinen Platz. In Betracht der geographischen Lage und bei der Beschaffenheit des Fahrzeugs erwachte bei uns drei Mutigen sofort der Traum von den hundert Sachen.
Wir hatten ganz schön zu schnaufen, bis wir das Gefährt mit dem schweren Vieh-Transportkasten über den Krankenhausberg (16 %) und die Graßlfinger Höhe in Richtung Regensburg hinaufbrachten. Da musste nach unserer Meinung hernach schon auch etwas zu unserem Vergnügen herausspringen, wenn man sich einer solchen Strapaze unterzog. Die Geschichte hatte ja auch eine Kehrseite: Wo es jetzt steil hinaufging, ging es nachher auch steil hinunter.
Das Ferkelpaar holten wir bei Gradl, den Großeltern von Hans. Ich erinnere mich noch genau, es gab zu Mittag Kartoffel – oder Pröselschmarrn zur Stärkung. Ich erwischte ein Salzbrosel, das sich bei der Zubereitung offenbar nicht ganz aufgelöst hatte. Weil es mich zum Speien reizte, schob ich den Schmarrn in eine Mundbacke und trieb vehement zum Aufbruch.
Die liebwerten Schweinchen wurden in das Gatter gesteckt. Gesund schauten sie aus dem frischen Stroh und fröhlich grunsten sie uns zu. Wir Drei legten uns sogleich kräftig in die Riemen, denn das ersehnte Vergnügen stand unmittelbar bevor.
Was mich betraf: Zuerst den Salzplopp ausgespuckt, dann kräftig die Hände gerieben und zum Schieben die Ärmel hochgekrempelt. Den kurzen Anstieg in Richtung Heimat hatten wir schnell geschafft. An der Grenze zwischen der Oberpfalz und Niederbayern, die durch einen mächtigen Meilenstein gekennzeichnet war, nahmen wir wie eine Bob-Besatzung unsere Plätze ein. Albert, dessen Vater der Leiterwagen gehörte, war folgerichtig Steuermann an der Deichsel. Diese musste er mit den Beinen bedienen. Hans hielt den Gatter fest mit den Händen. Er war für die Sicherheit der Ferkel zuständig, weil sie ja von seinen Großeltern stammten. Ich saß hinten und schaute bergwärts. Ich sollte nötigen Falls mit den Füßen bremsen, die ich auf der Straße gleiten ließ.
Als aber das Fahrzeug mit seinen eisenbereiften Holzrädern erst einmal richtig in Fahrt gekommen war, flitze es mit Furcht erregendem Holtergepolter über den Schotter talwärts. Da versagte meine Bremskraft, und wir erreichten die oben erwähnten 100 Sachen, dass uns der Fahrtwind fast vom Wagen fegte. Mit Bremsen ging da nichts mehr, und die Ferkel ahnten nichts Gutes.
Bei Bufler an der Kurve war Albert an der Deichsel einfach überfordert. Der Leiterwagen krachte in den dort befindlichen Graben. Das Saugatter machte sich selbständig und stülpte sich über die Böschung. Der Wagen war zu Bruch gegangen. Wir drei Piloten lagen als Opfer des Rennversuchs im Graben. Jeder hatte seine eigenen Schrammen.
Das wäre nicht so schlimm gewesen, aber was war mit den Ferkeln? Bestimmt erging es ihnen nicht gut, denn sie erreichten das Erwachsenenalter nicht mehr. Sie mussten notgeschlachtet werden. Der Kaufpreis war jedoch nicht ganz in den Wind geschrieben, weil es bei Albert, dessen Vater Metzger war, dem Hören-Sagen nach ein paar Mal Ferkelbraten gab.
Wir Drei erlangten im ganzen Markt zweifelhaften Ruhm. Wer sonst als wir hätte die Vorstellung von 100 Sachen realisiert? Mit Blick auf die Ferkel zog ich später für mein Leben den Schluss, dass nicht jedes Schwein ein Glücksschwein ist.

Von |2022-02-22T17:40:58+01:0022. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare

130: Die Wurzel der Süchte – die Neugierde. Kindliches Ernstspiel in Bad Abbach vor und nach dem zweiten Weltkrieg (Teil 3)

Die Zeit, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, darf mit Fug und Recht spartanisch genannt werden. Trotzdem entwickelten sich in mir ein paar epikuräische Züge.
In dieser Zeit war an Zigarettenautomaten überhaupt noch nicht zu denken. Tabak, Zigarren und Zigaretten waren nur gegen Lebensmittelkarten erhältlich. Trotzdem vollzog ich mit meinen Freunden Adolf und Otto die ersten nikodinischen Experimente.
Wir benutzen dazu die „Judenstricke“, die in der Gegend überall wuchsen. Das Schlingewächs umwuchert die höchsten Bäume wie die Schlangen den Laokoon. Die Dicke richtet sich nach der Auswahl, von der Stricknadel- bis zur Armdicke.

Reichlich mit diesem Angebot der Natur ausgerüstet schlichen wir uns einmal in den Fremdenstall der Gastwirtschaft Petschko am Markte. Da lag haufenweise Stroh zum Einstreuen für die Pferde durchreisender Gäste. Wir aber entfachten in einer Ecke mit einem Büschel ein Feuerchen, mit dem wir die Glimmstengel zum Glühen bringen wollten.
Der Versuch erwies sich als interessant aber wenig genussreich. Bevor wir aus dem Versteck verdufteten, drückten wir das Feuer aus. Aber die Versuchsrunde hatte gegen Abend ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Es blieb unbekannt, ob die Feuerwehr unseretwegen ausrücken musste, oder ein noch späterer Besucher unachtsam mit offenem Licht oder einer Zigarette umging.
Wir Drei haben verständlicher Weise nicht danach gefragt. Es ist auch zu bedenken, dass die Elektrizität noch nicht in jeden Winkel von Bad Abbach vorgedrungen war.
Im Jahre 1945 – Welten lagen dazwischen – machte ein ähnlicher Versuch einen ungeahnten Fortschritt!
Die amerikanischen Besatzer wurden von ihrem Vaterland reichlich mit Zigaretten versorgt:
Camel, Lucky Strike, Chesterfield hießen die wesentlichen Sorten. Weil die GIs genug davon hatten, rauchten sie die Sargnägel nur bis zur Hälfte ab. Den Rest, damals schon Kippen genannt, knipsten sie mit geübtem Daumenkick auf die Straße.
Sobald wir Buben einen rauchenden GI dahinschlendern sahen, was damals oft geschah, schlichen wir ihm nach, warteten auf den Augenblick des Kicks und stürzten uns auf den noch glimmenden Rest. Den rauchte man auf einer „Zigarettenspitz“ (= Mundstück) gleich zu Ende, oder man sammelte den Tabak in einer Dose, um damit richtige Zigaretten zu drehen.
Auf dem Spitzboden unseres Wohnquartiers richtete ich ein richtiges Tabaklager ein und lud gegen das Versprechen absoluter Verschwiegenheit alle meine echten Freunde zum Smoke-in ein.
Ich selbst hatte mich mit einer besonderen Attraktion gewappnet. Unter der Bewunderung aller Anwesenden stopfte ich mir eine selbstgebastelte Pfeife. Es war der kautschukerne Handgriff eines Regenschirms.
Wie ich aber den „Koksofen“ – so nannte man damals auch richtige Tabakspfeifen – in Gang brachte, fing der Kautschuk Feuer und brannte in einer mächtige Fackel ab, dass ich mir fast die Finger und den Mund verbrannte.
Glücklicher Weise hatte ein paar Jahre vorher die Reichsregierung angeordnet, dass wegen der Brandbomben der Feinde bei Luftangriffen auf allen Speichern des Reiches neben den Kaminen Behälter mit Wasser und Sand zu stehen hatten. Mit dem Inhalt sollten alle Brände im Keim erstickt werden, sobald man sie entdeckte.
Ich war gut exerziert und erinnerte mich in der Stunde der Gefahr an diese Wasserstelle wie an eine Oase in der Wüste. Glücklicher Weise hatte der Hausherr, weil er noch nicht aus dem Krieg zurück war, seinen Speicher noch nicht aufgeräumt. So kam auch dieses Wasser noch zu seinen Ehren : Konnte es schon während des Krieges das Haus nicht vor seinem Ruin bewahren, durfte es sich an jenem Tage mit diesem Ruhm bekleckern.
Es brannte sich aber ab da für immer in meine Seele und mein Gedächtnis der wahrhaftige Grundsatz ein: „Messer, Gabel, Scher`und Licht taugt für kleine (?) Kinder nicht!“

Von |2022-02-22T17:37:26+01:0022. Februar 2022|Lesebuch|0 Kommentare
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