091: Die Kunst des Überlebens in der Zeit zwischen dem Kriegsende und der Währungsreform (1945 – 1948)

Es ist schon merkwürdig, was manche Leute bei sich für fromm halten. In vielen dieser Fälle wird der liebe Gott, wenn er eine Stirn hat, diese runzeln. Ist doch besagte Frömmigkeit nicht frei von Berechnung. Wenn wir als Gegenleistung für unser Guttun und – sein die Krone des ewigen Lebens erwarten, sind wir wahrlich nicht bescheiden!

Wie ich ein Bub war, hatten wir eine notvolle Zeit durchzustehen. Am schlimmsten war es nach dem Krieg. Da war das Brot eine Rarität. Die Bauern rings herum, oder gar die vom Markt, hatten mit den Notleidern wenig Mitleid. Wer etwas zu tauschen hatte, oder wessen Einfluss nützlich war, der erhielt auch eine sog. Schmiere. Die normalen Zeitgenossen nicht, auch wenn ihnen der Magen knurrte.

Wenn aber wir Kinder anrückten und um ein Stück Brot baten – das Wort „Bettel“ vermeide ich absichtlich, weil wir unseren Preis bezahlten – gab fast jede Bäuerin ihrem Herzen einen Ruck und spendierte einen dicken Happen. Wir wollten, wie gesagt, nichts umsonst. Wir beteten im „Fletz“ (= Hauseingang) ein „Vater unser“, wenn die Gabe es wert war, auch zwei.

„Geh´ma zum Vata unsa bet´n!“ nannten wir diesen Vorgang, wenn wir Nachbarskinder zu viert oder fünft nach Peising, Oberndorf oder Saalhaupt ausschwärmten. Manchmal wagten wir uns sogar über die Eisenbahnbrücke nach Poikam, das damals noch nicht zu Abbach gehörte.

Gott, den ich damals noch für den lieben Gott hielt, revangierte sich sofort und reichlich für unsere vertrauensvolle Bitte „unser tägliches Brot gib uns heute!“

Bis zum Abend hatten wir unseren „Zöcherer“ voll von Essbarem.[i] Hernach ging es ans Teilen. Gerecht musste es vor allem dann zugehen. Offenbar wurde ich als gerecht befunden, denn mir viel jeweils die Aufgabe des Teilens zu. Ich machte schließlich auch bei den Bauern immer die Haustüre auf und ging voran, obwohl auch ich einen gehörigen Bammel hatte. Aber einer musste ja die Führung übernehmen. Auch konnte ich am lautesten beten. Wenn ich einmal in Fahrt war, hatte ich bald keine „Schiss“ mehr.

Das Überleben überließen wir als Kinder und Jugendliche in dieser Zeit aber nicht nur dem lieben Gott. Wir leisteten auch einem Beitrag in eigener Verantwortung:

Die Donau war damals – wie es heute ist, weiß ich nicht genau – reich an Fischen. Vom großen Weißfischen bis zu kleinen Lauben konnte man alles brauchen. In den Fluren von Abbach lagen nach dem Krieg ganze Arsenale von Handgranaten. Für unseren Zweck eigneten sich die Eierhandgranaten am besten. Wegen der erfahrenen militärischen Früherziehung verstanden wir es auch, dieses Zeug zu handhaben. Man zog das Ding ab, warf es in die Donau, und unverzüglich, 50 m weiter, trieben mehrere Fische an der Wasseroberfläche. Man brauchte nur ins Wasser zu springen, um die Beute zu bergen. Manchmal brieten wir die Fische gleich an der Donau zum Verzehr oder versteckten sie im Gebüsch, damit wir sie am Abend vor Beginn der Sperrstunde (22 Uhr) im Schutz der Nacht nach Hause tragen konnten.

Aber Ende 1945 wurden Suchtrupps ausgesandt, die die Bevölkerung von den herumliegenden Kriegsrelikten befreien sollten. Darum hörten die rauen Sitten, die wir Buben uns im Spiel mit der Fundmunition angeeignet hatten, auf. Das Fischen war leider wieder zum Monopol des dafür bestimmten Gewerbes geworden. Auch das Fischen mit der Angel war schließlich wieder verboten. Eingedenk der Tatsache, dass selbst Kardinal Frings in Köln das Ausrauben von Kohlewagons auf den Bahnhöfen nicht für sittlich verwerflich fand, sondern als eine Art von Mundraub in extremer Notlage – den Vorgang nannte man nach ihn „fringsen“ – hatte mein Vater nichts dagegen, dass ich in der Donau nach Lauben fischte. Was in der Donau schwamm, meinte er, gehöre allen.

Und so sammelte ich die kleinen Fischlein, von denen alle 10 Minuten einer biss, in Mengen. Am Abend war ein Wassereimer voll, in den Mama einen Sud aus Essig und Zwiebeln ansetzte. Was darinnen garte, nannten wir Bismarckheringe. Sie gaben mit Pellkartoffel ein delikates Zubrot ab.

Das Problem bestand lediglich darin, wie man den gefüllten Eimer nach Hause brachte. Die Angelgerte versteckte ich im Gebüsch an der Donau für das nächste Mal. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn sie in dem Loch einer alten Kopfweide entdeckt worden wäre.

Eines Tages kam dann doch die Polizei zu Papa, der Nantsch (Zieglmeier Franz, Berufsfischer) hatte mich angezeigt. Aber es fehlten die Beweise, und Papa konnte so überzeugend jeglichen Verdacht zerstreuen.

Ich erinnere mich an einen weiteren Glücksfall, der unseren Hunger stillte:

Im Frühjahr 1946 schenkte mein Großvater jedem seiner verheirateten Kinder, 12 an der Zahl, einen halben Zentner Weizen. Es war nicht viel übrig geblieben von der Ernte, weil die Militärs 1944/45 den Winterbau vermasselt und die heimischen Behörden sogar das Saatgut für die nächste Aussaat requiriert hatten.

Aber den Weizen gleich zur Mühle zu fahren, war zu riskant, und so stand der Weizensack lange Zeit im Schlafzimmer hinter der Eingangstüre. Einen Teil brach Mama in der Kaffeemühle zu Schrott und buk Brot damit. Den restlichen Teil trug ich im Rucksack bei Nacht und Nebel über den Katzstein bei Frauenbrünnl zur Mühle nach Teugn. Mein Großvater hatte mein Kommen angekündigt. Der Müller hatte aber kein Mehl vorrätig, wie ich in der Nacht so vor ihm stand, aber Grieß hatte er genug. Ich erhielt den halben Rucksack voll, etwas weniger als ich Weizen mitgebracht hatte.

Nun gab es Wochen lang nichts als Grießbrei und Grießsuppe, so viel und so oft, dass ich hernach lange Zeit keinen Grießbrei mehr riechen konnte.

Auch von der Kartoffelernte nahmen wir uns unseren Anteil. Einen Teil „fringsten“ wir von waldnahen Feldern einheimischer Bauern, manchmal konnte Großvater uns zu Hilfe kommen. Dann gab es in der Frühe statt Zichorienkaffee Kartoffelsuppe. In die Schule nahmen meine Schwester und ich in einer Spitztüte Bröselschmarrn (= Kartoffelschmarrn) für die Pause mit. Kartoffelschmarrn war damals ein beliebtes Volksgebäck, weil die Kartoffeln am leichtesten aufzutreiben waren.

[i] Zöcherer = Sacktasche mit zwei eisernen Ringhandeln.

Von |2023-12-02T19:36:15+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

092: Ernstspiel- und Lausbubengeschichten aus der Nachkriegszeit

Die eigentlichen Erzieher, Vater und Lehrer, waren in der Kriegszeit weithin ausgefallen. Man war als Kind und Heranwachsender weithin in der Entfaltung seiner Kräfte und Fähigkeiten auf sich selbst gestellt. Und der Erfolg ließ sich in den meisten Fällen hernach auch sehen:

So besitze ich heute noch die Fähigkeit, wenn ich mag, aus nichts und mit nichts etwas zu machen. Fast jeder Notstand lässt sich so beheben.Als ich ein Kind war, lernte ich, jeden Rest zu verwerten und die Dinge zu hinterfragen, was man aus ihnen machen kann. Den Hang zur Perfektion oder Konfektion gab es damals nicht.Jedes Stück war ein Modellstück, denn der Stoff oder das Material zu zwei gleichen Exemplaren war nicht vorhanden.

Ich erwarb ein breit gestreutes praktisches Wissen: Schnaps verstand ich zu brennen, Tabak zu pflanzen, Schusser zu backen und zu lackieren, mit Pulver und Blei umzugehen. In den Granatenkartuschen fand ich noch Wachs (Sterin), mit dem ich Christbaumkerzen zog. Ich fertigte Hausschuhe aus Roggenstroh und Stoffresten. Dazu flocht ich lange, schmale Zopfstränge, die ich auf einen vom Schuster ausgeliehenen Leisten aufbaute. Ich sott Kernseife aus Seifenstein und Rindertalg, fertigte Schuhchreme aus Wachs und Ruß aus dem Ofenrohr, legte ganze Wassereimer voll Bismarckheringe ein, die ich aus der Donau fischte. Aus Staniolstreifen, die die feindlichen Bomber zur Disorientierung der Flak (= Fliegerabwehkanone) abwarfen, schnitt ich Lametta für den Christbaum.

Mit den Gesetzen der Physik und Biologie pflog ich spielerischen Umgang: Hebel, Rolle, schiefe Ebene, Reibung und Beschleunigung nutzte ich bei meinen Zügen in die umliegenden Wälder, um Brennbares zu finden und zu sammeln. Ich entdeckte, dass Birkenholz auch in grünem Zustand im Ofen brennt. Weil Sämereien Mangelware waren, zog ich die benötigten Sorten selbst, um sie auf engstem Raum auszubringen: Kisten und Büchsen, Dachrinnen zwischen anliegenden Häusern und urbar gemachte Lichtungen zwischen Donauschilf und Weidenbüschen waren mein Garten Eden.

Einmal sammelte ich im Herbst einen Kartoffelsack voll Kastanien, um sie einem Jäger oder Schäfer für die Winterfütterung zu verkaufen. Weil aber der Markt in Folge des äußerst fruchtbaren Kastanienjahres übersättigt war, blieb ich auf meiner Ware sitzen. Nun stand der Sack einen Monat da, und ich überlegte unentwegt, was ich mit dem ungefragten Schatz anfangen könnte. Ich schnitzte Schwammerln, Männchen und Körbchen. Haufenweise reihte ich sie mit Hilfe einer Schnur zu Halsketten auf und schenkte sie befreundeten Mädchen. Endlich säte ich überall Kastanienbäume, wo ich meinte, dass ich der Natur einen Gefallen tat.

Aber immer noch stand ein halber Sack der braun-weiß glänzenden Frucht herum. Oft rührte ich sie um, schüttete sie aus einem Sack in den anderen, lüftete sie häufig, damit sie nicht verschimmelte. Doch eines Tages war ich der Plackerei überdrüssig und ich ließ mich dazu verleiten, sie als Wurfgeschosse zu missbrauchen. Wahllos schleuderte ich sie über die Hausdächer und Hinterhöfe in alle Himmelsrichtungen, ohne zu prüfen, wo sie landeten. Sie prasselten auf Hausdächer, landeten auf Straßen und in Gassen, sie flogen in Fensterscheiben und auf Blechabdeckungen.

Da hörte ich Stimmen, die jammerten und schimpften. Sie riefen sich zu und fragten nach dem Übeltäter. Offenbar hatte ich drei oder vier Häuser weiter das Backstubenfenster des Hermannbböck (später Jost) zum Klirren gebracht. Da war mein Schicksal besiegelt. Der Hermannböck vermutete sofort die Ursache im Hof der Konkurrenz, nämlich beim Nösnerböck. Mit seinen Riesenpranken haute er mir mächtig fauchend ein paar „Fotzen“ oder Watschen herunter. Den geschulterten Mehlschurz haute er mir ein paar Mal um den Kopf, dass es wie in einem Mehltrog staubte. Er packte mich am Arm und wollte von meiner Mutter Genugtuung haben. Glücklicherweise war sie aber nicht zu Hause!

Das Glas im zerbrochenen Fenster ließ sich ohnehin nicht ersetzen, weil es keines gab. Es mussten bestimmt ein paar Pappkartons eingesetzt werden. Das konnte meiner Meinung nach nichts schaden, weil man Nachts die Fenster so wie so mit schwarzem Verdunkelungspapier abdichten musste. Es durfte wegen des Verbots der Nachtarbeit kein einziger Lichtstrahl nach außen dringen.

Was ich aus diesem Zwischenfall lernte, war der Einblick in das Kausalitätsprinzip. Ich sah ein, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt.. Weil man für alles damals einen weisen Spruch bemühte, erkannte ich auch, dass nichts so fein gesponnen ist, dass es nicht an die Sonne käme. Daher versuchte ich es ab jetzt mit dem klugen Rat der Mutter: Erst denken, dann handeln. Aber es bewahrheitete sich auch bei mir sehr bald ein allgemein menschlicher Befund: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!

Gleich neben uns befand sich die Wurstküche des Metzgers Josef Hof, der noch im Krieg weilte. Darum hatte sich dort die sog. Volksküche etabliert. Täglich garte dort in großen Kesseln und Töpfen der Eintopf für Scharen von Flüchtlingen, die täglich neu aus dem Osten kommend unseren Markt übervölkerten. Diese hatten nur notdürftige Quartiere in unseren Häusern gefunden. Ihnen standen keine Herde oder Öfen zur Verfügung, auf denen man hätte kochen können. Aber sie hatten Hunger und verköstigten sich und ihre Familien aus der Gulaschkanone von nebenan. Jeder der kam, bekam einen „Schlag“ in das Feldgeschirr oder in sonst was. In Reih und Glied standen die fremden Menschen Schlange. Sie mussten den barschen und forschen Kommandos des Arthur Schulz folgen, der sich Flüchtlingsobmann nannte. Die Eintopfköchin hieß Frau Neumann. Ich empfand auf der Hofmauer hockend Mitleid mit den armen Leuten, die der Hunger plagte. Oder vielleicht war ich auch neidig auf den mir nicht zugänglichen Futtertrog.

Wie eine undifferenzierte Äußerung eines unzufriedenen Erwachsenen das Hirn eines Kindes blockieren kann, wäre in Kurzform nicht zu schildern. Denn Schulz hasste ich, und ich habe ihn auch gestraft. Welche Folgen es hatte, muss ich verschweigen. Gegen die Neumann hatte ich nichts, weil sie hübsch war, was ein Vorzug ist, den Männer schätzen. Meine Mutter war mit mir gnädig und bemerkte nur: „Du bist noch ein dummer Bub und wirst im Leben noch viel lernen müssen!“

Später wurde Schulz sogar noch ein Freund von mir und ein Sangesbruder. Er wurde sogar Kunde meines Vaters, was alle Vorbehalte überwand.

Gleich nach dem Kriege war man für jeden essbaren Bissen dankbar. Im Kochzipfel gab es in der Metzgerei Fischer Rindsblutwürste, in die sich nur selten ein Speckstückchen verirrte. Um diese loszubringen, bedurfte es schon kräftiger Werbesprüche. So stand denn die kleine, runde Fischermetzgerin, die ihren oberpfälzer Dialekt nie ganz loswerden konnte, gelegentlich vor der Ladentür und rief: „Bluatzla gibt´s aus Rindsbluat!“

Da entschloss ich mich eines Tages, um ein paar Reichspfennige ein solches Exemplar zu kaufen. Essen konnte ich die Wurst nicht, sie wäre mir wie Fensterkitt im Halse stecken geblieben. Aber wenn sie schon da war, musste sie eine Verwendung finden:

Im Bad gab es eine Liegehalle für Kurgäste. Sie war zum Kurpark hin offen. Als ich einmal keinen anwesend fand, gestaltete ich im Ruckzuckverfahren mit der Blutwurst die eintönig weiß gestrichene Rückwand mit einem Spruchband : „(…)“ Den Inhalt des Spruches verrate ich nicht. Nur: Der Badbesitzer Höign ärgerte sich schwarz und blau. Aber die Zeit heilt Wunden, Höign lebte noch lange, er ist nach Jahren nicht an der Blutwurst gestorben, sondern an etwas anderem.

Von einer unbeliebten Beschäftigung, die mir die Großmutter in Saalhaupt aufhalste, muss ich noch berichten, dem Gänsehüten im und beim Espenweiher:

Ich trieb die 20 bis 30 Stück starke Herde den Abhang hinunter zum Weiher am Ortseingang in Richtung Abbach. Da waren alle Bauernkinder meines Alters in gleichem Auftrag gegen- wärtig. Der Auftrag hieß: Die Schnatterbande ist zusammenzuhalten und vor allem Schaden zu bewahren. Ich vertraute meinem besonders bösen Ganserer und suchte dazwischen allerhand Kurzweil. Den lästigen Job war ich bald los, denn meine Großmutter konnte nicht anders, als mich von diesem Posten abzuberufen, weil ich kläglich versagte. Nicht selten suchten die Gänse am Abend den Weg nach Hause alleine und von selbst. Sie schnatterten dann, dumm wie sie waren, ausgerechnet vor der Haustüre der Großmutter, und ich war erst eine Stunde später in Sicht.

Oft stand dann mein Großvater schon am Fenster, um nach vollbrachtem Tagwerk die Zeitung zu studieren. Er breitete sie immer auf dem breiten Fensterbrett aus, womit alte Bauernhäuser ausgezeichnet waren. In der Kuchl drinnen war es meist schon düster. Großvater kümmerten die Gänse so wenig wie mich, auch er hatte sich als Jugendlicher zu Höherem berufen gefühlt. Er musste aus dem Seminar nur nach Hause, weil den Bruder ein Pferd erschlagen hatte. Er hatte mit mir immer Verständnis und konnte nie verstehen, warum mich Großmutter immer so böse schimpfte, nachdem nie eine Gans fehlte.

Von |2023-12-02T19:35:03+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

093: Religiöse Erziehung und Praxis in den 1940er Jahren in Bad Abbach

Ich will auch einmal etwas für die an Religion und Kirche Interessierten tun, weil religiöse Themen gelegentlich auch mit der Geschichte des Ortes zu tun haben und deshalb nicht verschwiegen werden dürfen. Es soll das gesamte Lokalkolorit der damaligen Zeit dargestellt werden:

Wir Schul- und Kindergartenkinder besuchten fast alle den sonntäglichen Gottesdienst. Die Kleinen noch in Begleitung der Eltern. Da waren die Kirchen noch voll! Meistens gingen wir ins Amt um 10.00 Uhr. Dieses dauerte aber sehr lang und stellte die Geduld unzumutbar auf die Probe. Der Kirchenchor sang feierliche lateinische Ämter. Was sie da sangen, verstanden nur ein paar erlauchte Personen. Die Frau Röhrl-Sattlerin und die Frau Franziska Zellner strapazierten ihre ältlichen Stimmbänder, und auf der Orgel spielte unser Hauptlehrer Karl Heinrich oder Sepp Marchner oft ein schrilles Stakkato, was vom unregelmäßigen Orgeltreten herkam oder von diversen Defekten am Orgelwerk. Es war oft zum Erschrecken!

Im Kirchenschiff saßen wir Kinder dem Alter nach aufgereiht in den Bänken, links vom Mittelgang auf der „Weiberseite“ die Mädchen, rechts vom Mittelgang, auf der „Mannerseite“ die Buben. Während auf der Weiberseite wegen der dazwischen eingestreuten Klosterschwestern vom Kindergarten oder Krankenhaus gesittete Zustände herrschten, ereignete es sich sehr häufig, dass auf der Mannerseite der Teufel los war, was Hochwürden Lehner beim Messelesen sehr störte.

„Glücklicher Weise“ gab es dagegen den „Feldmeier Hardl“ (Hardl = Bernhard), der es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatte, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er hatte als Zeichen seiner „Amtsgewalt“ ab einem bestimmten Datum eine ofenrohrähnliche, lange Pappendeckelrolle, die er bei eingetretener Störung wie den Strafblitz des Zeus auf den Kopf des Störers sausen ließ, was einen gefürchteten Plescherer erzeugte (Plescherer = Knall), der mehr Aufsehen erregte als das Verhalten der ungezogenen Kinder. Die Eltern, weit hinten in Andacht oder Schlaf versunken, rissen die Köpfe hoch, ob nicht ihr „Pangert“ die Ursache des Zwischenfalls war. Man schämte sich dann vor der Öffentlichkeit und die meisten Väter hatten schon vorher für einen solchen Schandfall Arschprügel angekündigt. Ob sie diese dann daheim vollzogen oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.

Mir war es in der Kirche meist sehr langweilig und ich betätigte mich daher oft als Holzschnitzer und Löcherbohrer, wobei mir die Kirchenbank vor mir als Material und das Sackmesser als Werkzeug dienten. An mindestens fünf Stellen des gottgehörigen Mobiliars der „Großen Kirche“ trugen die sonntäglichen Schwerarbeiter die Initialen ihrer Namen ein. Mit fortschreitendem Alter kamen die Namen der angebeteten Mädchen dazu, oft mit Herz und Pfeil mittendurch. Wenn die Eingebung so lautete, wollte man wissen, wie dick das Brett vor einem ist. Das verlangte dann ein gehöriges Stück Arbeit, denn die Zeit drängte. Man wollte auch noch den Nutzen solcher Löcher testen. Man stach schon einmal mit einer zurecht gebogenen Sicherheitsnadel durch das Loch den Vordermann in den Rücken, oder sonst wo hin, je nachdem wie hoch das Loch postiert war.

Im Maimonat erfreute sich die Mutter Gottes einer besonderen Verehrung, nicht gelegentlich, sondern jeden Tag. Ihr gehörte die Pracht der Blüten und Blumen in den Gärten und in der Flur. Für Maria errichteten fromme Erwachsene oder deren Kinder auch zu Hause einen Maialtar. Weil wir keinen eigenen Garten besaßen, klaute ich die nötige Pracht dort, wo sie mir in die Augen stach. Wenn das Jahr früh dran war, gab es auch schon die Pfingstrosen, wenigstens in den letzten Maitagen.

Eine Neuerung im Mai galt als ganz sicher:

Hinter der Vest, auch nahe am Friedhof, entfalteten mächtige Kastanien, Ahorn- und Lindenbäume ihr erstes Grün. An ihm taten sichs Schwärme von Maikäfern gütlich. Ganze Trauben dieser damals als Ungeziefer eingestufte Spezies Scarabei hingen an den Zweigen und harrten der Sammlerleidenschaft von uns Kindern, oder dass sie von den Vögeln oder Hühnern gefressen werden.

Wenn nahm es Wunder, wenn gerade wir Buben besonders prächtige Exemplare in eine Streichholzschachtel sperrten und im Hosensack mit in die Maiandacht nahmen? Dort ließen wir sie dann in den weihevollen Kirchenhimmel sausen. Sie kamen erst zur Landung , wenn sie an die Wand oder an sonst was flitzten.

Dieses kurzweilige Spiel fiel in der Maiandacht dem massenhaft vorhandnen Kirchenvolk nicht absonderlich auf, sie ignorierten es aber auch wegen ihrer tosenden Inbrunst oder sentimentalen Hingabe. „Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn“ – „ Meerstern ich dich grüße“ – „Wunderschön Prächtige“, sangen die Frommen. Das Reservoir des Nachwuchses lautete aber auch : „ Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg!“

Der schon erwähnte Pfarrer Alois Lehner war nicht nur mein von Gott gesandter und vom Bischof Michael Buchberger von Regensburg zugedachter Seelenhirte, sondern wegen meines Ministrantendienstes so zu sagen auch mein Arbeitgeber und Dienstherr. Wenn es schon so war, handelte ich (bestimmt auch die meisten anderen Ministranten!) eingedenk einer allseits geübten Gepflogenheit: „Komme nicht zum Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.!“ Man muss wissen, dass man als Schulkind dem Pfarrer überall, wo man ihn antraf, die Hand geben musste., sogar küssen hätte man diese Hand müssen. Außerdem hätte man einen Knicks machen sollen und dazu wäre zu sagen gewesen: „Gelobt sei Jesus Christus.“

Dieser zweckentfremdeten Küsserei war ich abhold. Wenn es schon nicht erlaubt war ein Mädchen ohne Sündenangst zu küssen, war mir auch diese lustlose Knutscherei zu wider. So hielt ich überall und jederzeit die Augen offen und die Ohren steif, ob nicht irgendwo der Pfarrer lustwandelte oder sonst irgendwie daherkam. Sah ich auch nur seinen Schatten, machte ich mich schnell aus dem Staub

Zur Kirchweih allerdings musste ich im Auftrag meiner frommen Großmutter in Saalhaupt dem Pfarrer jeweils eine Tasche voll Kücheln bringen, und beim Neujahrsabwünschen gehörte der Pfarrer und seine Fräuleins Schwestern zur althergebrachten Kundschaft, was man sich wegen des ausbezahlten Obulus einfach abringen musste.

Später hatte ich mit dem Herrn Pfarrer regelmäßig zu tun. Im Jahre 1948 wagte er mit mir zur Vorbereitung auf das mir zugedachte „heilige Priesteramt“ die ersten lateinischen Schritte. Nicht nur „Dominus vobiscum – et cum spiritu tuo!“ – Nein, richtig deklinieren und konjugieren! Da wäre er an mir fast verzweifelt. „ Du wirst nie ein Lateiner“, schnaufte er oft nach vergeblicher Mühe und kärglicher Ausbeute.

Auch ich war oft so verzweifelt, dass ich von der schönen, grünen Samttischdecke, auf der mein Lateinbuch ruhte , jedes Mal ein paar Holzperlen abbdrehte und in die Hosentasche steckte, bis sie ausschaute wie eine zerrupfte Henne, die die Maser hat.

Dass es überhaupt zu diesen intensiven Kontakten zwischen mir und Pfarrer Lehner kam, ist mir heute noch ein Rätsel. Hatte man doch von einem solchen Mann Gottes so hohen Respekt, dass man als Kind glaubte, Gott habe ihn wegen des praktizierten ledigen Standes so begnadet, dass er gar nicht wie andere Leute zur Toilette gehen müsse.

Gewiss war in meinem Fall meine Großmutter dahinter. Sie war als Verehrerin des heiligen Franziskus Mitglied des 3. Ordens. Von mir hatte sie keine so exzellente Meinung. Zu mir sagte sie als biedere und bestimmt Zweilfel wegen meiner Umtriebe hegende Bauersfrau gelegentlich: „Du taugst zu nichts als zum Studieren! Aber wenn du Pfarrer werden tätst, tät ich im Monat 20 Mark dazu zahlen!“

Wie schon angedeutet, hatte ich anfangs für die Bekanntschaft und Beziehung in geistigen und geistlichen Belangen keinen besonderen Gusto. Aber der Pfarrer trug seine Absicht, mich zu einem Berufskollegen zu formen, bestimmt schon lange in Petto. So übernahm er später ein Jahr lang die Zahlung von monatlich 30 DM an die Spätberufenenschule Hirschberg bei Weilheim, um meinen Vater zu entlasten. War dies das Vermächtnis meiner zu diesem Zeitpunkt schon verstorbenen Großmutter?- Jetzt sind sie beide schon im Himmel, und ich hoffe, dass sie das Geld nachträglich nicht reut.

Zu dieser Geschichte trieb mich ein sehr ernstes Problem an . Das religiöse und pfarrliche Leben in Bad Abbach hat sich seit meiner Buben- und Jugendzeit grundlegend geändert. In die Gottesdienste kommen Kinder und Jugendliche nur mehr sehr sporadisch. Auch an Erwachsenen mangelt es gewaltig.
Nun fiel der Entschluss, die Pfarrkirche auf dem Berg nur mehr in Ausnahmefällen zu gottesdienstlichen Verrichtungen zu öffnen, aber sonst zuzusperren. 150 Besucher müssten für eine Feier des Gottesdienstes dort mindestens anwesend sein! Das ist ein schwerer Schlag gegen den Verein „Freunde der Pfarrkirche“, die sich in den vergangenen Jahrzehnten und Jahren den Zustand der Kirche eine Stange Geld kosten ließen und für ihr Outfit ihr Herzblut einsetzten.

Schade, schade! Wieder ist ein bestes Stück der Abbacher Tradition die Donau hinuntergesegelt!

Von |2023-12-02T19:33:45+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

094: Die Sexualpädagogik meiner Kinder- und Jugendzeit ( 1933-1950)

Die angegebene Zeit kann nur insofern gelten, als sie meine persönliche Lebenszeit betrifft. In Wirklichkeit gehen die Wurzeln meiner Erlebnisse und Erfahrungen in der Kinder- und Jugendzeit weit in die zurückliegenden Jahrhunderte, über 300 Jahre der katholischen Kirche, zurück. Ich erinnere an den Namen Alphons Maria v. Liguori (1696 – 1787
). Ich habe während meines Theologiestudiums seine drei Bände „Homo Apostolicous“ [i], insbesondere die Anleitung für Beichtväter im ersten Band,[ii] gelesen. Es ist schon bezeichnend, dass er die Gedanken zum übrigen Dekalog in seiner Muttersprache Italienisch schrieb; das sechste Gebot aber behandelte er in lateinischer Sprache. Als Begründung steht in der deutschen Übersetzung von 1854:

„Im italienischen Text gibt der hl. Alphons den Grund an, warum er diesen Abschnitt lateinisch schreiben wolle., nämlich diesen, damit er nicht so leicht von anderen als von Beichtvätern gelesen werde. Aus dem nämlichen Grunde wurde auch hier keine Übersetzung gegeben, sondern der lateinische Text belassen.“[iii]

Die Arbeit sollte also nur vom sprachkundigen Klerus gelesen werden können, damit ja kein anderer in der Taxierung seiner sexuellen Interessen oder Aktivitäten auf dumme Gedanken komme und seinen Fall nur als „lässliche Sünde“ statt für eine „Todsünde“ halte . Im Text wird jedes Vergehen im 6. Gebot grundsätzlich als Todsünde gewertet. Es heißt dort: Peccatum contra hoc praeceptum est materia maxime ordinaria in confessionibus, et est vitium, quod replet infernum animabus.“[iv] Auf Deutsch: „ Eine Sünde gegen dieses Gebot ist eine entschiedenste bei der Beichte, und es handelt sich um ein Laster, das für die Seelen die Hölle zur Folge hat.“ Und so gaben es die Beichtväter weiter.

Daraus entstand eine Verzerrung des gottgeschenkten Guts der Erotik und Sexualität. Dies sage ich einschränkend, sofern der Mensch mit Rücksicht auf seinen Nächsten bestimmte Schranken einzuhalten bereit ist. Die verflossene Praxis ist ein Vergehen an der Menschheit, das die kath. Kirche in Ewigkeit nicht mehr gut machen kann. In Puncto Erotik und Sex muss sich die Kirche völlig neu orientieren, nicht in Anpassung an den Zeitgeist.

Die Sexualpädagogik meiner Kinder- und Jugendzeit bestand in Heimlichtuerei, Für-dumm-halten und so gehalten werden, Verlegenheiten, Belügen und Belogenwerden, Sündendrohung und Sündenangst. Die „Sünden“ gegen die Keuschheit hießen unkeusch denken, wünschen, begehren, sehen, hören, reden, tun (allein oder mit anderen).

Mädchen und Buben zog es trotzdem unwiderstehlich zueinander. Man frage sich, wer solchen „Unfug“ in ihnen verursacht hat. Es war bestimmt der Teufel ! Wie war bloß Gottes Auftrag keusch zu realisieren : „Wachset und mehret euch!“?

In meiner Erziehung – und ich war da keine Ausnahme – gab es zwischen Männlich und Weiblich fast nur Tabus. Manche Frauen wussten bei der Hochzeit noch nicht, worauf sie sich einließen. Die geringsten Kaliber nannte man Unschamhaftigkeit. Es bleibt mir ein Rätsel, warum die Menschheit noch nicht ausgestorben ist. Schon der Weg in die Ehe war gefahrvoll. Und erst hernach! Bis in unsere Zeit hätte die Ehe keinen wichtigeren Grund als die Erzeugung und Erziehung von Nachwuchs. Ein untergeordneter Grund sei die gegenseitige Hilfe. Ganz zuletzt komme sie als Heilmittel gegen die (verdammte, A.d.V.) Begierlichkeit[v]in Frage.

Wenn die Erwachsenen von Sex oder irgend was „Anrüchigem“ zwischen Mann und Frau sprachen, hatten sie kein gutes Gewissen. Solche Reden, gar vor Kindern, hätte man als Verführung eingestuft, von der es in der Bibel heißt: „Wer einem dieser Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“

Seit den 1980er Jahren wissen wir um die Notwendigkeit der familiärem und schulischen Aufklärung zum Schutz für unsere Kinder und Enkelkinder. Man denke heute im Frühjahr des Jahres 2010 nur an die vielen, die Wasser predigen und Wein trinken! Ich denke aber an meine schlichten, rechten Eltern und Großeltern und meine 11 Tanten, die sich bei dem Gedanken an die erwähnte Drohung in der Bibel gefürchtet hätten, mich ordentlich aufzuklären. Sie hätten solche Reden noch als „Saukram“ bezeichnet.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge heute noch meine jüngeren Tanten, wie sie mit den Füßen im Saalhaupter Espenweiher planschten, die Köpfe zusammensteckten und sich etwas zutuschelten. Plötzlich wurden sie verlegen und rot im Gesicht, wenn ich hinzukam. Gelegentlich sagten sie dann: „ Pst, die Schindeln sind auf dem Dach!“

So versperrten mir Irrlehren für lange Zeit den Zugang zu dem kleinen Paradies natürlicher Glückseligkeit.

Im Haus von Großvater und Großmutter ging es bei 12 Kindern und einem Haufen (meist illegitimer) Enkelkinder eng zu. Aber es galt trotzdem angewandte Schamhaftigkeit. Nur die älteren Tanten hatten ein eigenes Bett. Darum wurde jeweils ein Älterer mit einem Kleinen in einem Bett zusammengepackt. Wenn man aus dem Bett nach oben schaute, sah man nur die Dachziegel, die Schindeln und die Dachlatten. Dann kam das mächtige Gebälk. Dies alles war die Spielwiese für meine kindliche Phantasie.

Um 20 Uhr begann immer die Waschzeremonie. Für uns Kleinen stand ein ausgedienter Krautzuber in der „Kuchl“. Jeder wurde täglich hineingestellt, angefangen von den Kleineren zu den Größeren, und jeder wurde von oben bis unter abgeschruppt. Der Zuber war so hoch, dass man nie sehen konnte, was sich im unteren Teil des Betroffenen befand. Die Älteren waren, wie sich allmählich herausstellte, ausschließlich weiblichen Geschlechts. Sie bekamen nach vollendeter Waschung einen Kleinen huckepack auf den Rücken, und so ging die Post ab in das Bett.

Ich schlief lange Zeit im Bett der Tante Berta. Sie war etwa fünf Jahre älter als ich Heute ist sie schon gottselig. Ich kuschelte mich an sie und wir wärmten uns gegenseitig in der eiskalten Kammer. Gewiss merkte ich, dass sich Berta in verschiedenen Punkten von mir unterschied. Sie wurde an manchen Stellen runder und üppiger. Aber sie war von Natur aus ein zierliches und zartes Persönchen. So fiel die Veränderung nicht so sehr in das Gewicht. Damals war man auch phänotypisch noch nicht so akzelleriert entwickelt wie heute.

Bestimmt hatte Berta schon erotische Interessen und Empfindungen, denn unter verdächtigem Gekicher erzählte sie mir an vielen Abenden die Geschichte vom „Schurken mit der langen Gurken“. Aber ich war noch so dumm und meinte, es sei die Rede vom Kasperl, der eine lange Nase hat.

Sie meinte aber etwas anderes, wie ich später erfuhr. Sie war von ihren älteren Schwestern schon hinreichend aufgeklärt und wusste vom Unterschied zwischen ihr und mir.

Es war mir bei der praktizierten Vorsicht und Schamhaftigkeit nicht gelungen, die typischen weiblichen Merkmale einmal in Natura zu begutachten. Und so sollte es lange Zeit dauern. Es gab noch kein Fernsehen oder einschlägige Literatur, oder gar Aufklärung in Familie und Schule. Darum blieb es der Phantasie überlassen, sich ein eigenes Bild von der Anatomie einer Frau zu entwerfen.

Wie ich sicher weiß, war nicht nur ich so unaufgeklärt, es war vielmehr die Regel.

Einmal war es Zeit, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und den Realitäten in das Auge zu sehen. In meinem Umkreis lebten und bewegten sich ein paar ältere Freunde und Mädchen. Die Buben führten aufgeklärte Reden und interessierten sich für größere Mädchen, die sich ihrerseits noch mehr für die Buben interessierten. Eines Tages verabredeten sie sich zu einer gegenseitigen Besichtigung. Sie sollte auf einem benachbarten Speicher vor sich gehen. Die Prozedur nahm unter großem Gekicher, Gewisper und Geflüster ihren Lauf.

Ich stand mit dabei, war aber so mit meiner Schamhaftigkeit beschäftigt, dass ich mich nicht hinschauen traute. Daher war ich hernach genau so dumm wie vorher. Eine Chance war vertan!

Natürlich wurde ich naturgemäß älter und die Straße verlangte ihren Tribut. Von einer begehrenswerten Frau hatte ich jedoch eine übersteigerte Vorstellung. Ich hatte als Ministrant eine eigentümliche theologische Prägung erhalten. Auf circa 100 Hochzeiten hatte ich sie mir angeeignet.

Heute weiß ich, dass dieses verbale Gemälde der idealen Frau aus dem Alten Testament stammt. Dort heißt es: „ Eine tüchtige Frau, wer findet sie wohl? Weit über Korallen hinaus geht ihr Wert. Auf sie kann vertrauen das Herz ihres Mannes, und nicht wird es mangeln an reichem Gewinn. Sie erweist ihm nur Gutes und niemals ein Leid an allen Tagen, so lange sie lebt.“[vi]

Diese ideale Schau von einer Frau stand aber einer anderen diametral entgegen, die mir von einer anderen Seite zugetragen wurde: „Eine Frau kann in ihrer Schürze mehr Geld aus dem Haus hinaustragen, als ein Mann mit dem Schubkarren hineinfahren kann.“ Von meiner Mutter war in diesem Punkte kein Beitrag zu erwarten, weil sie mir in ihrer Verlustangst von vorne herein jedes Frauenzimmer madig machte.

Ich aber hatte instinktiv das Gefühl, dass die „Schatzsuche“ ein kompliziertes Unterfangen ist. Man sollte es, wie gelehrt wurde, Gott anvertrauen. Darum machte ich mich eines Tages daran, entgegen alle Vorbehalte Gott um ein hübsches, liebes, gescheites, gutes, reiches weibliches Wesen zu bitten, das alle Vollkommenheit in sich birgt, wie die heilige Maria, so wie sie in der Lauretanischen Litanei in der Kirche am Ende des Rosenkranzes gepriesen wurde.[vii]

Ich besaß einen blauen Glasperlenrosenkranz , den ich nun mehrere Male nachts durch die Finger gleiten ließ und mit den freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Geheimnissen abbetete, damit sich Gott beeilen wolle.

Aber wie hat er es anders gewendet! Ganz schön trickreich, wie die Götter im Hellenistischen Himmel, die die Menschen arglistig auflaufen ließen. Schickte er mir doch statt eines liebreizenden Mädchens die Ehrwürdige Schwester Ludowika Bickleder, eine Klosterfrau, die mir einen falschen Willen Gottes einredete. „Du bist doch zu schade zum Heiraten, du müsstest ein Pfarrer werden!“

O Eitelkeit der Eitelkeiten! Was hört der Mensch lieber, als dass er für etwas zu schade ist? Ich bildete mir ein, dass sie Recht hat, und die Frau in meinem Fall ein wider den Willen Gottes nicht zu intendierendes Geschenk ist.

Aber ist es nicht wunderbar, dass Gott den Zeitpunkt voraus weiß, wann der Mensch abrückt von seiner Torheit und sich zur Wahrheit bekehrt. Bei diesem meinem Akt hat er bewiesen, dass er getreu ist. Leider beweist er es nicht immer und bei jedem!

Nur noch einige Lobpreisungen aus der Lauretanischen Litanei für solche Leser, die kein „Gottes Lob“ zu Hause besitzen und auch nicht in die Kirche kommen

„ (…)

Mutter ohne Makel, du Vielgeliebte, so wunderbar, Mutter des guten Rates, der schönen Liebe. Du kluge Jungfrau, von den Völkern gepriesen, mächtig zu helfen, voller Güte, ein Sitz der Weisheit, eine Ursache unserer Freude, ein Kelch des Geistes, der Hingabe, eine geheimnisvolle Rose etc.

 

[i] Liguori v., Alphons Maria. Homo Apostolocus. 3 Bände. Verlag Georg Josef Maunz. Regensburg, 1854.
[ii] A.a.O. SS. 431 – 444.
[iii] A.a.O. S. 431.
[iv] A.a.O. S.431.
[v] CIC 1919, Can. 1013.
[vi] 1 Sprüche, 31,10 – 31.
[vii] Gottes Lob 1975, S. 738.

Von |2023-12-02T19:26:34+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

095: Kleine Genüsse an der Rationierung durch Lebensmittelkarten vorbei (1940 – 1950)

Die Zeit, in der ich aufwuchs, darf man mit Fug und Recht spartanisch nennen! Trotzdem entwickelten sich, wie vermutlich bei allen Zeitgenossen, in mir ein paar epikuräische Züge. Damit bewahrheitet sich eine pädagogische Binsenweisheit, dass der Mensch ein Produkt seiner Anlagen und der Einflüsse seiner prägenden Umwelt ist.

Tabak, Zigarren und Zigaretten waren nur gegen Lebensmittelkarten erhältlich. Dieser Mangel war für manchen Erwachsenen eine schwere Bürde. Sie halfen sich vielfach durch Ersatzmittel, „Frühdrusch“ genannt, aus der Klemme. Man zog sich, so man einen Garten besaß, seinen eigenen Bedarf heran, den man nach guter Lagerung und Trocknung durch aromatische Beigaben nach Gusto veredelte.

Auch wir Halbwüchsigen, es gab die Wortschöpfungen Teenies oder Kids noch nicht, wagten erste nikotinische Experimente. Wir bedienten uns der „Judenstricke“, die es in unserer Gegend auch heute noch haufenweise gibt. Es handelt sich um ein Schlingengewächs, das die höchsten Bäume umwuchert wie die Schlange den Laokoon. Das Gewächs variiert in der Dicke von einer Stricknadel, von einem Finger oder einem Schaufelstiel. Reichlich mit diesem Angebot der Natur ausgerüstet schlichen wir uns unbemerkt einmal in das Experimentierlokal, meistens in Gruppenstärke.

Einmal war es der Fremdenstall einer Gastwirtschaft im Markte. Wir bedachten nicht, dass dort haufenweise Stroh zum Einstreuen für Pferde durchreisender Gäste herumlag. Aber immerhin leistete uns dieses bei dem beabsichtigten Versuch vermeintlich wirksame Hilfe: Wir entfachten mit einem Strohbündel in einer Ecke ein Feuerchen, in dem wir den Glimmstengel zum Glühen bringen wollten. Mit Streichhölzern allein war es nicht zu schaffen.

Bevor wir aus dem Versteck verdufteten, drückten wir das Feuer aus. Gegen Abend plagte jedoch die Raucherrunde ein furchtbar schlechtes Gewissen. Musste die Feuerwehr wegen uns ausrücken, oder hat ein späterer Besucher unachtsam mit offenem Licht, einer defekten Laterne oder mit einer Zigarette hantiert? Die Elektrizität hatte ihren Siegeszug noch nicht in alle Winkel genommen. Diese Frage ist bis heute nicht geklärt, weil wir verständlicherweise nicht danach fragten.

Aus diesem Vorfall habe ich für mein Leben viel gelernt. Der Grieche Euklid nennt das Feuer „das Beste“. Auch in Homers Ilias oder Odyssee, ein Altphilologe möge mir helfen, hat es die gleiche Bedeutung. „To ariston to pyr (gr.) “! stand da. einmal, und ich sollte übersetzen . Ich entschied mich zum Entsetzen meines Griechischlehrers zu „Das Bier ist das Beste“. So tiefgreifend nistete sich meine damalige Angst vor offenem Feuer in meiner Bubenseele ein, dass mich das Wort Feuer sogar im Unterricht zurückschrecken ließ.

1945, nach dem 1. Weltkrieg, wurden die amerikanischen Besatzungssoldaten von der Heimat reichlich mit Zigaretten versorgt. „Camel“, „Lucky Strike“, „Chesterfield” u.a. hießen die Sorten. Die Amis rauchten gewohnheitsmäßig die Zigaretten nur bis zur Hälfte ab. Den Rest, „Kippen“ genannt , knipsten sie mit einem Daumenkick auf die Straße.

Sobald wir Buben einen rauchenden GI daherschlendern sahen, schlichen wir ihm nach, warteten auf den Augenblick des Kicks, stürzten uns unter dem Vorwand einer bodennahen Verrichtung auf den noch glimmenden Rest. Diesen rauchte man dann auf einer „Zigarettenspitze“ gleich zu Ende oder sammelte den Tabak für ein späteres Smoke-in mit einigen Freunden.

Auch bei einem solchen Anlass machte ich eine ungute Bekanntschaft mit dem Feuer. Für diesen Ritus gab es verschiedene Instrumente, „Koksofen“ genannt, die sich die Beteiligten nach je eigener Kunstfertigkeit aus Blech, Holz oder Ton formten. Ich glaubte mit dem hohlen Griff eines alten Regenschirms einen besonderen Wurf getan zu haben. Wie ich aber das Zündholz betätigte, entwickelte sich der Pfeifenkopf zu einer mächtigen Fackel, die mir fast die Finger und den Mund verbrannte. Der Griff war, was ich nicht bedacht hatte, aus Kautschuk.

Glücklicherweise hatte einige Jahre vorher die Reichsregierung angeordnet, dass wegen der Brandbomben der Feinde auf allen Speichern des Reiches neben dem Kamin Behälter mit Sand und Wasser zu stehen hätten, mit deren Hilfe man alle Brände sofort nach deren Entdeckung im Keim ersticken könnte.

Gut exerziert, wie ich war, erinnerte ich mich in der Stunde der Gefahr dieser Wasserstelle wie einer Oase in der Wüste. Es war glücklicher Weise keine Fata Morgana – der Hausherr hatte nach dem Krieg nicht gleich sauber aufgeräumt – und so kam auch dieses Wasser noch zu Ehren.

Meine Mutter war eine Meisterin im Horten und Hamstern von Genießbarem für ihre Familie. Gegen Ende des „Dritten Reiches“, als man den Ami oder Tomi schon nahe fühlte, füllte sie die verfügbaren Bier- oder Limoflaschen mit eingekochtem Holler oder Schwarzbeeren ( hochd. Heidelbeeren). Man wusste ja nie, was uns bevorstand. „Sicher ist sicher“, dachte sie, und so wuchs der Vorrat beträchtlich. Beim Einmarsch der Amerikaner befanden sich in einer Kiste mindestens 30 Flaschen.

Als wir die Wohnung verlassen mussten, lud Mama unsere Betten, darunter die auf diese Weise gut verborgene Kiste, auf einen Schubkarren, beförderte sie durch alle Notunterkünfte, bis wir wieder in unsere Wohnung zurück durften. Auf diese Weise blieb der Schatz, der das Überleben sichern sollte, vor Diebstahl bewahrt.

Die Rettung war schon einer besonderen Feier wert! An einem Freitag opferte Mama zu einer Mehlspeise eine Hollerflasche. Aber ich sollte sie öffnen, weil das Männersache sei. Es muss eine göttliche Eingebung gewesen sein, der ich mit der Flasche in den Abort folgte. Wie ich nämlich den Verschluss kippte, tat es einen ohrenbetäubenden Knall, wie aus einer Fontäne erhob sich das Hollerkompott aus dem engen Flaschenhals und entfaltete sich in einer dichten Wolke. Ich und der Abort waren in Sekundenschnelle nicht mehr zu erkennen.

Meine Schwester bog sich vor Lachen. Meine Mutter aber hegte den begründeten Verdacht, dass sie in den restlichen Flaschen eine Zeitbombe beherbergte.

Von |2023-12-08T22:57:02+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

096: Das Verhältnis der Generationen zu einander bis in die 1970er Jahre

Mir graut davor, wenn ich daran denke, was aus mir wird, wenn ich noch älter und vielleicht allein und hilflos bin. Wollten sich meine Kinder auch fürsorglich um mich kümmern, stehen Welten dagegen! Diese heißen räumliche Entfernung, Beruf, Finanzen und Verbindlichkeiten verschiedener Art. Was bleibt mir zuletzt übrig? Ich wage nicht, es auszusprechen Das Altersheim? Die Hospiz Einrichtung?

Seit meiner Kindheit und Jugendzeit vollzog sich in der Soziologie der Familie, in den für sie geltenden ethischen Normen, in den gegenseitigen Beziehungen, Abhängigkeiten, Regeln und Rücksichten ein Wandel, der dem Wandel der Gesellschaft entspricht. Dieser wiederum ist verursacht und geprägt durch Industrialisierung, Automation, Emanzipation, Zivilisation, Liberalisierung und Desorientierung.

Meine Erziehung in einem sog. christlich geprägten Elterhaus war vor allem auch bestimmt durch die Norm des vierten Gebotes: „ Du sollst Vater und Mutter ehren, dass du lange lebest auf dem Boden, den Jahwe, dein Gott, dir geben wird!“ (2 Moses 20,12). Das vierte Gebot zeigte die Pietät als grundlegende Verpflichtung für alles Leben in der Gemeinschaft auf, vor allem in der Familie. Den Eltern gebührte sogar Gehorsam, weil sie Stellvertreter Gottes waren. In der Familie musste Ordnung sein durch Gehorsam, Sich-Einordnen, Sich-Unterordnen. [i]

Wenn ich die ethischen Grundsätze meiner Kinder- und Jugendzeit mit dem Heute vergleiche, stelle ich fest, dass ein Erdrutsch stattgefunden hat, eine tiefgreifende Entideologisierung aller obigen Normen. Natürlich ist die Gewissensfrage berechtigt: Wie erfüll(t)e auch ich die Pflichten, die ich als Vater oder Mutter habe (hatte)? Lasse (ließ) ich den Kindern genügend Raum zur Entfaltung ihres Lebens, oder setz(t)e ich ihnen unnötige Schranken? Versuch(t)e ich meine Kinder so zu erziehen, dass sie zu menschlicher Reife kommen können (konnten)?

Aber heute? Der Wandel der Familienformen ist radikal durch die Lebensumstände bedingt. Mehr als die Hälfte der in Liebe geschlossenen Ehen werden geschieden. Die notwendige Berufsarbeit beider Eltern fordert ihren Tribut. Die öffentlichen Einrichtungen, in denen die frustrierten Kinder geborgen werden sollen, sind durch Personal- und Finanzmangel überfordert. Die medialen und analogen Miterzieher gewannen die Übermacht!

Ich will nicht bestreiten, dass es noch glückliche Ausnahmen von der heute geübten säkular-laizistischen Erziehungs- und Familienpraxis gibt. Auch einige früher allgemein übliche, nun aber futuristische Projekte werden genannt, das „Generationenhaus“, die „Neue Dorfgemeinschaft“, in der man über die eigene Schüssel hinweg Verantwortung für den oder die Nachbar/in organisiert.

Gewiss, früher gab es auch keine absolut heile Welt, aber die gegenseitige Fürsorge für die Angehörigen funktionierte nach meiner Überzeugung besser.

Meine Mutter, um es an einem Beispiel zu zeigen, war eine fürsorgliche Mutter. Wir Kinder haben es ihr auch nicht schwer gemacht, uns zu umsorgen. Spurten wir einmal nicht, oder waren wir bockig, dann sagte sie, dass sie uns noch einmal davonlaufe. Das verfehlte die Wirkung nie! Dann kehrten wir zum Wohlverhalten zurück.

Meine Mutter hatte nicht nur eine fixe Vorstellung, wie Kinder zu sein und wie sie sich zu verhalten hätten. Zu ihrem Spektrum gehörte auch die Auffassung, wofür sie bestimmt sind. Sie war noch geprägt von der patriarchalischen Praxis, in der die Versorgung der alten Eltern zu sichern sei. Diese Vorstellung setzte sie auch für ihren Fall in die Tat um:

Als im Jahre 1945 ihre Mutter in Saalhaupt schwer an Krebs erkrankte, schien es keine Hilfe zu geben. Großmutter hätte operiert werden müssen, aber in dieser Nachkriegszeit war kein Auto zum Transport in das Krankenhaus nach Regensburg aufzutreiben. – Da setzte Mama alle Hebel in Bewegung, um die Überführung zu ermöglichen. Sie nahm Verbindung zur amerikanischen Militärregierung auf, erbat einen Militärkrankenwagen, begleitete die Mutter im Krankenwagen selbst zu den Barmherzigen Brüdern, und blieb ihr bis nach der Operation nahe. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus pflegte sie sie bis zum Tode hingebungsvoll.

Ebenso verhielt sie sich gegenüber ihrem alten und gebrechlichen Vater. In Saalhaupt waren zwar genügend Schwestern meiner Mutter, um den Vater zu pflegen. Aber sie alle verstanden es als Gemeinschaftsaufgabe, für den 85 jährigen Vater da zu sein und ihn zu umsorgen.

Als er schließlich einen Schlaganfall erlitten hatte, fuhr meine Mutter Monate lang mit dem Fahrrad nach Saalhaupt, um Opa wie einen kranken Vogel zu füttern und ihm alle Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie bleibt mir bis zu meinem Lebensende ein Vorbild für Kindesliebe und Dankbarkeit. Das Verhalten meiner Mutter war sicher nur ein Beispiel unter vielen gleichen Beispielen anderer Leute. Ich bin froh darüber, dass auch ihr durch ihre Kinder die gleiche Liebe bis zum Tode zu Teil wurde.

Diese Haltung verstanden natürlich schon früher nicht alle Leute: Als ihr Mann, mein leiblicher Vater, in seinen letzen Zeiten der Mutter bedurfte, versuchte sie ihn zu trösten: „Wenn du sterben müsstest, sterbe ich auch gleich und folge dir schnell nach.“ – Da entgegnete Papa in seinem Elend mit treuherzigem Blick und einem ehrlichen Seufzer: „ Tua mir dös bloß net o! Lass ma doch a paar Joar mei Ruah!“.

[i] Vgl. Kraus, Alfons. Für einen gefallenen Engel beten sie nicht. Verlag Publik-Forum, Oberursel 1989. S. 33f.

Von |2023-12-02T19:23:22+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

097: Volksschule in Bad Abbach für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration (1940-1948)

Der Lauf meines Lebens brachte es mit sich, dass ich mitten im Krieg, nach Vollendung des 6. Lebensjahres, für „Führer, Volk und Vaterland“ in die Pflicht genommen wurde. Es war Ostern 1940, die bevorstehende Schulzeit war auf 8 Jahre terminiert und man übte sich anfangs noch in der „Deutschen Schrift“ (Sütterlin). Mein Vater befand sich schon auf einem anderen Schlachtfeld; aber eine Art Kriegsschauplatz war es auch, wohin mich meine Mutter jetzt brachte.

Daran änderte auch die liebwerte Seele der gütigen und mütterlichen Empfangsdame, wie ich die Oberlehrerin Maria Schirmer für diesen Augenblick bezeichnen möchte, nichts. Stand ihr doch beim Aufschreiben meiner Personalien Fräulein Oberlehrerin Maria Krach zur Seite. Ihr ging der Ruf voraus, dass sie alle krummen Pflänzchen zurecht biegen würde.

Ich selbst machte mit ihr in der Praxis meiner Abbacher Laufbahn per Augenschein die Erfahrung, dass diese Leben sprühende Person durch Geistesschärfe und reiches Wissen glänzte. Sie war wegen vieler und ausgedehnter Reisen erfahren.

Der Schulleiter war Hauptlehrer Karl Heinrich, ein strenger, konsequenter und tüchtiger Lehrer, der nach dem Krieg Bürgermeister war, aber von der Militärregierung wegen seiner NS- Mitgliedschaft bald darauf abgesetzt wurde. Die Abbacher wählten ihn jedoch trotz dieser Maßnahme bei der nächsten Gelegenheit dann wieder, diesmal aber zum Verbleib, nachdem er entnazifiziert war.

So ist es eben, dass wir unsere Erinnerungen an die Schulzeit mit den Lehrern stützen, mit denen wir in guten wie in bösen Tagen unsere Zeit teilten. Sogar mein Vater, Schülerjahrgang 1912, erzählte am liebsten eine Lehrergeschichte, wenn er die Frage nach seinen Schulleistungen geschickt umgehen wollte.

Papa war das Kind zwar angesehener, aber nicht allzu vermögender Leute hier in Abbach. Sie besaßen eine Geiß (=Ziege), die der Familie, die Gott jedes Jahr mit einem weiteren Kinde segnete, Milch spendierte. Einmal hütete sie Papa als Bub auf dem Turnplatz (heute Asklepios), hängte sie an eine Stange und schaute ihr beim Fressen zu.

Da kam sein Lehrer, Hauptlehrer Fischer, des Wegs. Papa soll ihn nicht gerade abgöttisch geliebt haben, wie er selbst erzählte. Fischer streichelte die weiße Ziege und sagte: „Hast du da ein schönes und liebes Tier!“ Papa kannte die Aggressivität seiner gehörnten Geiß gegenüber Fremden und hoffte zuversichtlich auf die übliche Reaktion. Schon nahm sie Anlauf durch Rückschritt, steuerte auf den Hauptlehrer zu, stieß ihn in den Bauch, dass er zu Boden stürzte. „Hast du ein verdammtes Mistvieh!“ schimpfte er jetzt, und Papa musste sich hüten zu lachen, was er am liebsten getan hätte.

Kehren wir wieder zu mir selbst zurück: Trotz guter Lehrer, aber wegen mangelnder Unterrichtsmittel und ideologieträchtiger Lehrpläne produzierte die damalige Planwirtschaft in den Schulen des Reiches serienweise Mangelware. In unserer Abbacher Schule war es nicht so krass. Wie es sich später herausstellte, waren unsere Lehrer zwar Listen mäßig in der Partei, aber doch systemkritisch. So kämpften sie bei uns, ihren Schülern, um ein ausreichendes Fundament für das spätere Leben: Rechnen, Schreiben und Lesen.Mit dem Pfarrer Alois Lehner als Religionslehrer bewältigten diese drei Lehrkräfte mit uns zusammen im Schichtunterricht die gesamte Kriegszeit.

Einer anderen Persönlichkeit gebührt an dieser Stelle ein kräftiges Memento. Es ist die Wally Schütz, das Faktotum all der Jahre meiner Abbacher Schulzeit. Sie diente als Klagemauer, Nachhelferin, Besorgerin, Putzfrau und Raumpflegerin. Sie schleppte Holz und Kohlen für die vier Kachelöfen im Schulhaus auf die Schulbruck. Ohne sie wären wir erfroren und im Unrat erstickt. Sie war so zu sagen die Schmiere im Räderwerk der Schulpflicht.

Abgesehen von einer gewissen orthographischen Unterentwicklung, die kriegsbedingt war, machte ich in der Schule zu Abbach respektable Fortschritte. Als ich jedoch meinem Vater 1944 aus der 4. Klasse einen langen Brief nach Dänemark schrieb, offenbarte sich die erwähnte Schwäche. Papa liebte diesen Brief so sehr, dass er ihn nicht wegwarf. Er trug ihn nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft über 1000 km in seiner Brusttasche nach Hause, ohne über die schwere Bürde der 40 Rechtschreibfehler zu klagen.

Am Ende des Krieges nahmen einige neue Lehrkräfte an unserer Schule den Dienst auf. Einer von ihnen war Franz Brehm. Er kränkelte vom Krieg her und verstarb sehr früh. Wir hielten ihn für einen guten Lehrer und waren über seinen Tod sehr traurig.

Das Fräulein Rosenkranz aus dem Saarland war in der Zeit des Lehrermangels am Ort sehr willkommen. Frau Adele Speer hielten wir wegen ihres beständigen Erscheinens mit Holzgaloschen für eine Schrulle. Dabei konnte sie wegen des allgemeinen Mangels gar nichts dafür. Wir ärgerten sie oft unbarmherzig, sie aber strengte sich an und gab ihr Bestes.

Allmählich erreichte der Schulbetrieb seinen normalen Lauf. Oberlehrer Josef Manglkammer, genannt der „Jos“, war aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt und belebte die Schule, den Sport und das öffentliche Leben. Als Schulleiterin fungierte nach dem Krieg Frau Weber. Sie zog sich aber ein heimtückisches Leiden, die Tuberkulose, zu und es ereilte sie ein früher Tod. Als Schulrat waltete in Kelheim am Schulamt Herr Staudt.

Es soll noch erwähnt sein, dass damals auch alle Lehrerinnen ledigen Standes sein mussten. Es galt auch für sie noch eine Art Zölibat wie bei den Pfarrern. Die Kinder sollten durch den Anblick einer schwangeren Frau auf keine akzelerierten Gedanken kommen. Aber der Staat war nach dem Krieg klüger als die Kirche und hob diese Last auf, was ihm nur nützte.

Ein ausgeprägtes Schulleben mit Festen und Feiern und besonderen Ereignissen, wie weiland des Führers Geburtstag, gab es nach dem Krieg nicht. Die Not der Nachkriegsjahre hatte uns noch im Griff. Es war schon eine Auszeichnung für mich, als ich 1946 eine Tafel Schokolade als Preis der Militärregierung für meine guten Leistungen erhielt. Später wurde mir der Preis einer Orange zuteil. Es war die erste Orange meines Lebens.

Wir Kinder des Schuljahrgangs 1940 wuchsen 1948 trotz allen Mangels aus der Schule hinaus. Heute sind sie bis auf wenige Ausnahmen schon verstorben.Ich hatte das Glück und die Energie über eine Spätberufenen Schule den höheren Bildungsweg zu erreichen. Das Ziel Abitur erreichten damals nur wenige, zu denen ich 1956 gehörte.

Von |2023-12-02T19:22:07+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

098: Männer aus der Pfarrei (Bad) Abbach, die Priester wurden

Die Reihe der Pfarrer zu Abbach können sie, wenn es Sie interressiert, im Abbacher Heimatbuch von Fritz Angrüner nachlesen.[i] Eine Liste der Männer, die aus der Pfarrei das Priesteramt erreichten, ist mir weder in den Heimatchroniken von Abbach , den hiesigen Pfarrakten oder dem Abbacher Archiv begegnet, so dass der Eindruck entstand, dass Abbach kein guter Boden derartiger Berufungen war. Gestützt wurde diese Meinung durch einen Vorwurf Erzbischof Michael Buchbergers an Pfarrer Ludwig Meier, dass eine Gemeinde, die keine Priester hervorbringe, eines eigenen Pfarrers nicht Wert sei.

Als ich vor etlichen Jahren jedoch den Auftrag hatte, das Pfarrarchiv von Poikam, das nach der Eingliederung der Pfarrei Poikam nach Bad Abbach im hiesigen Pfarrhof Einzug gehalten hatte und in ungeordnetem Zustand danieder lag, zu ordnen, kam mir jedoch eine diesbezügliche Liste in die Hände und ich staunte über die tatsächliche Lage. Da wurde mir wieder bewusst, wie wichtig die Arbeit von geistigen „Quellenforschern“ ist, die Verborgenes, ja Vergessenes neu bergen. Der Mann, den ich hier meine, ist Pfarrer Josef Hiendlmeyer aus Poikam, (* 23.01.1877 in Rettenbach, Pfarrei Michaelsbuch, + 13.1.1939 in Poikam). Die Arbeit für die folgende Liste leistete Pfarrer Ries aus Rottenstadt (Aitenhofen).

1. Hofmeister Christoph
Priester 1551 – Pfarrer in Strasskirchen, + 1599

2.  Lämmel Johann, Priester 1570 – Pfarrer von Ascholtshausen, Pfakofen , 1581 Steinbach, 1605 Benefiziat Mötzing

3.  Artlieb Johann Michael.. Vater Bürger und Maurer Abbach. * 14.9.1723
Profess P. Anicetus O.F.M. + 21.12.1768 in Stadtanhof

4.Rotfischer Johann Josef. .Vater Sänger und Organist. * 19.2.1741, Priester 20.5.1766

5. Hansmann Johann Thomas . Vater Zimmermann in Oberndorf. * 11.7.1744, Priester 29.10.1769

6. Putz Johann Nep. Vater Bürger und Bierbräu in Abbach, Profess in St. Emmeram als Pater Erhard OSB
Priester 25.11.1768, 1783 aus dem Orden ausgetreten (saec.), 1784 Pfarrer in Köfering, 1786 Professor der Philosophie in Passau, 1794 – 1799, Flüchling als Illuminat, 1799 in München, Hofkapelle, + 4.10.1802

7. Gamayer Bartholomäus, illegitimer Sohn. Vater Georg Gamayer, ledig, Hütergesell, Mainburg, Mutter Barbara Oberauer von Abbach. Profess in Rott als Pater Anton OSB, + 1781

8. Schindlbeck Josef. Vater Ludimagister (Lehrer) in Abbach. * 29.12.1761, Profess Pater Olympius OFM, Priester 3.1.1790, Pfarrer in Seeshaupt, Diözese Freising + 27.5.1841

9. Schindlbeck Mathias, Bruder von oben. * 14.10.1770, Profess OFM, Priester 21.12. 1793. 1802 aus dem Orden ausgetreten (saec.), 1884 Expositus in Staubing, 1823 benefiziat in Siegenburg, + 4.11.1834

10. Schwaiger Josef, Vater Häusler in Abbach. * 4.10.1771, Priester 3.9. 1797, lic.theol., 1804 Pfarrer in Starberg, Diözese Augsburg, 1819 Pfarrer in Vilshofen, Diözese Passau, Geistl. Rat, + 1848

11. Fröhlich Dionys Benedikt. Vater Chirurg. * 19.2.1777, Priester 31.8. 1800, Benfiziat Mötzing, + 30.9.1812

12. Grundler Josef. Vater Sattler in Abbach. * 17.1.1802, Priester 4.8. 1829. 1834 Pfarrer in Schwarzach, Diözese Passau. + 29.1.1840

13. Weigl Anton. Vater Bauer in Dünzling. Vater Anton, Mutter Katharina geb. Zirngibl, Priester 19.4.1830, 1850 Pfarrer in Volder, Diözese Freising, Geistl. Rat,+ 27.3.1882

14. Vogl (Folger?) Jakob * 23.8.1805 in Dünzling. Pfarrer in Wambert, Diözese Freising 21.8.1873 Commorant in Landshut

15. Forster Wolfgang. Vater Schneider in Abbach Hs. Nr. 94. * 5.5.1833, Priester 16.8.1856 . Commorant in Essenbach.+ 9.1.1876

16. Kammerneier Johann Georg . Vater Kammermeier Konrad, Bauer in Dünzling, Priester 12.8.1860 . Nov. 1872 Kathaus Prüll. + 19.7.1892

17. Gerl Heinrich . Vater Bauer in Gemling/ Abbach. * 28.11.1879, 1930 noch am Leben.

18. Pater Wolfgang Aumeier OSB, Pfarrer in Rintnach, Diözese Passau

19. Dr. Alfons Kraus. Vater Alfons Kraus, Schneidermeister, Mutter Franziska, geb. Schmidbauer. Geb.6.10.1933. Priester 29.6.1962. Expositus in Brand bei Markredwitz. Laisiert auf eig. Wunsch. Lehrer und Rektor in Ingolstadt 1973-1995. Praktikumslehrer und Prüfer in Theologie und Religionspädagogik Uni Eichstätt 1975-1995.Promotion Dr.phil. Ehrenamtl. Archivar in Bad Abbach Mai 2000 bis 2010 etc.

20. Dr. Dr. Peter Beer., Weltpriester.

21. Pater Thomas Winzenhörlein CMM, Die Priesterweihe hatte das große Fest der Primiz zur Folge. Siehe Bericht im folgenden Kapitel.

[i] Angrüner, Fritz. Abbacher Heimatbuch. Bad Abbach 1973, S. 123.

 

Von |2023-12-02T13:37:57+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

099: Ein Beispiel, wie man in (Bad) Abbach Feste feierte – Meine Primiz

Ich sollte zuerst erklären, was „Primiz“ bedeutet. Es handelt sich um die Feier der ersten Messe, die ein kath. Geistlicher nach seiner Priesterweihe (meist in seiner Heimat) feiert. Von der Teilnahme an dieser Messe gehe ein besonderer Segen aus, und es sei der Sage nach wert, ein Paar Schuhe durchzulaufen.

Nachdem sich die Feier meiner Primiz in Bad Abbach dieser Hoffnung gemäß mit gewaltigen Menschenmassen anließ, will ich sie in meine Geschichtsbetrachtung einbeziehen. Ich verstehe mich auch in diesem Fall als Zeitzeuge, nachdem diese Spezies Menschen, die Neupriester, in der Zukunft rar werden könnte.

Zur Priesterweihe am Fest Peter und Paul des Jahres 1962 im Dom zu Regensburg waren wir 21 Weihekandidaten. Die Weihe nahm Bischof Rudolf Graber vor. Der Dom war bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Domchor (Regensburger Domspatzen) wühlte mit Gesängen von ergreifender Reinheit, Vollendung und Tiefe unsere Seele auf. Hernach spendeten wir Neupriester alle zusammen den Primizsegen, für den sogar der Domplatz draußen noch voller Leute stand.

Es war eine Verdichtung der Spannung und der Erwartung spürbar, als wir vor dem Bischof knieten, der jedem die Hände auflegte, die Stola über der Brust kreuzte, die Casel Messgewand) anlegte, die Hände salbte. Wie einprägsam wurde die Bereitschaft der Neugeweihten aufgewiesen, als sie dem Bischof eine brennende Kerze darreichten, was so viel hieß als: „So brenne auch ich, wie diese Kerze.“

Aber das Symbol deutete keiner zu Ende! Wenn die Kerze abgebrannt ist, wer zündet sie dann wieder an? Wovon soll dann das Feuer genährt werden, wenn keiner dabei hilft?

Als ich vor dem Bischof zur Handauflegung kniete, war ich der Vorletzte, Johannes Lorenzer (bereits +) aus Rottenburg a.d.Laber der Letzte. Beide haben wir geheiratet. War dem Bischof bei uns zweien die Kraft der Weihehandlung schon erlahmt, oder war sie bei uns zweien besonders stark? So stark, dass wir die undenkbare Kraft aufbrachten, unseren Weg öffentlich und sichtbar zu korrigieren und zu heiraten. Manch anderer hatte die Kraft nicht.

Die Freude meiner Angehörigen war am Tag meiner Weihe von ihren Gesichtern abzulesen. Ebenso verhielt es sich bei den vielen angereisten Gästen aus Abbach. Sie alle drückten mir die Hände und ich wurde wie ein neuer Mensch gefeiert, der ich durch die Weihe geworden sei.

Der Tag war voller Hektik. Um 14.00 Uhr musste ich beim Bischof in seinem Palais die Dankesrede halten. Ich war ja der Kurssprecher , zu dem ich ein Jahr zuvor einstimmig gewählt worden war. Den Rest des Tages bis in die Nacht wurde ich in der ganzen Stadt herumgeschickt und herumgereicht, den Primizsegen zu erteilen. Dann fieberte ich dem nächsten Tag und den nächsten Zeiten entgegen.

Meine Heimat Bad Abbach empfing mich, wie heute Spitzensportler, Astronauten und Präsidenten empfangen werden. War der König oder der Prinzregent eingetroffen? Ein Bischofsempfang wie in früheren Zeiten war dagegen eine Kleinigkeit. Unüberschaubare Menschenmassen standen da vom Krankenhausberg bis zur Brauerei mitten im Markt, als ich am Ortseingang erwartet wurde. Der Gutsbesitzer Hubert Kraml aus Eiglstetten rechnete es sich zur Ehre an, dass er mich mit einem herrlich geschmückten Auto , so wie für eine Hochzeit herausgeputzt, von Regensburg nach Abbach chauffieren durfte. Totenstille trat ein, als ich aus dem Auto stieg. Es war ein überreiches, aber attraktives Programm vorbereitet, das reibungslos ablief. Mit Musik ging es zur Pfarrkirche auf dem Berg. Der Weg war mit Fahnen, Girlanden und Spruchbändern geschmückt: „Du bist Priester auf ewig!“ In der Kirche folgten Reden und auch eine erste Predigt von mir. Nach meinem feierlichen Primiz-Segen geleiteten mich die Scharen über die mit Blumen geschmückte Römerstraße zum Haus meiner Eltern. „Ein Stern geht auf über dem Haus, aus dem ein Priester kam“, stand da auf einem Spruchband über dem Eingang.

099 Wie man in Bad Abbach Feste feierte Primiz Kraus

Empfang am 30.06.1962. Vor dem Eingang zur Pfarrkirche.
Die vier Geistlichen von links nach rechts
Kaplan Jakob Egler, Pfarrer Ludwig Meier, Pfarrer Adolf Pauly, Primiziant Dr. Alfons Kraus
( im Hintergrund Johann Adlhoch, Kirchenpfleger, unbekannt, Otto Windl, Altbürgermeister)
Was in den nächsten Tagen, besonders am Tag der Primiz folgte, kann in der ganzen Bandbreite gar nicht geschildert werden. Es war ein Tag in voller barocker Pracht mit Gesang und Gedichten. Zur Kirche ging es unter den Klängen der Laabertaler Trachtenkapelle. Ganz Abbach hatte sich festlich herausgeputzt. Die Feuerwehr hatte zu tun, die Ungeduldigen mit ausgespannten Seilen daran zu hindern, die Kirche schon vor der Messfeier zu stürmen. Die Liedertafel und der Kirchenchor, den es noch gab, begleitete das Geschehen am Altar. Die Leute hatten bei weitem nicht Platz gefunden, und so musste die Feier auf den Friedhof übertragen werden. Der Primizprediger pries in großen Worten das Amt des Priesters und die Person des neuen Inhabers. Mit von der Partie war ein kleines, zierliches Mädchen, die sog. „Primizbraut“ ( Maria Fischer), die die Kirche als eigentliche Braut symbolisierte. Die Presse und die Photographen hatten ihre große Stunde, die sie bis zum Abend ausweiteten.
Nach der Kirche fand wieder ein Festzug aller Vereine der Pfarrei und des Marktes mit Fahnenbeteiligung zu Rheumakrankenhaus II (heute Asklepios) statt. Dort war der Tisch für die Festtagsgäste gedeckt. Während des 3-stündigen Mahles fanden wieder eine Menge Reden statt. Während des Essens gab es ein buntes abwechslungsreiches Unterhaltungsprogramm mit viel Humor und Musik. Es spielte das Kurorchester Bad Abbach unter der Leitung von Kurt Philipp.
Dies war die Speisenfolge:
Leberspätzlesuppe mit Bratwursteinlage
Rindfleisch, gekocht mit Preiselbeeren und Schwenkkartoffeln
Schweinebraten, zwei Kartoffelknödel und Sauerkraut
¼ Brathuhn mit Kartoffelsalat
grüner Salat, rote Rüben
Eis nach Belieben mit Waffeln
Zwei Tassen Kaffee, Kuchen und Torten nach belieben
1/8 L Wein, 1 Liter Bier hell.

Ausgekocht wurde zwar in der Küche des BRK II vom Ehepaar Inge und Josef Manglkammer, dem Jos, der einmal mein Lehrer war. Jos und Inge waren Besitzer des Rathaus Cafes. Das Mahl kostete 13 DM pro Person. Es waren 488 Gäste geladen, 547 waren gekommen. Der große Speisesaal bot gut Platz für alle. Ich hielt 45 Personen mahlfrei.

Die Post brachte einen Wäschekorb voll Gratulationsbrefe ins Haus.

An Mahlgeldern und Geldgeschenken nahm ich 19.000 DM ein. Davon waren aber alle Verbindlichkeiten zu liquidieren. 8000 DM kostete allein das Mahl bei den Gastwirten. Wegen der mangelnden Absprache waren Sachgeschenke wie Handtücher, Bettwäsche etc. weit über den Bedarf eines Menschen hinaus nicht zweckdienlich und allmählich nur mehr Flohmarktware.

Vom restlichen Geld (11.000 DM) musste ich für die weit ausgedehnte erste Seelsorgestelle in Au/ Hallertau einen VW- Käfer anschaffen. Er kostete mit Zulassung etc. 6000 DM. Ihn fuhr ich im Winter darauf bei Glatteis auf dem Weg von der Messe zum Pfarrhof zurück zu Schrott, was weitere Kosten verursachte. Von den nach der Primiz übrigen 5000 DM verschenkte ich 3000 DM, vom Rest musste ich mich im Pfarrhaus von Au einrichten. Ich war ja ohne alles Notwendige frisch von der Hochschule gekommen.

Es stellte sich heraus, dass von den Geldgeschenken nichts übrig geblieben war.

An dieser Stelle muss ich noch einige Nachsätze anbringen dürfen:

Einer meiner Gäste war der Pfarrer von Hohengebraching, Rupert Scheuerer. Er schenkte mir eine schwarze Aktentasche. Er überreichte sein Geschenk mit den bei ihm üblichen humoristischen Sprüchen. Aus dem was er sagte, zogen ein paar Naive den Schluss, dass die Tasche mit Geldscheinen prall gefüllt gewesen sei. Dieser Meinung folgend entstand das Gerücht von einem Geldsegen ohne Grenzen für mich, was unbegrenzten Neid bei gewissen Leuten generierte. Das war die böse Seite der Feier der Primiz.

Nach meinem freiwilligen Rücktritt vom Pfarramt 1969 erinnerten sich einige an die damalige Mähr und es reute sie das von mir angeblich missbräuchlich angenommene Geschenk. Manche verlangten dies zurück, Sachgeschenke schickte ich dann per Post an den „großzügigen Gönner“ zurück, angebliche Geldspenden konnten sie nicht verifizieren. Alles war sehr betrüblich.

Der Nachsatz wäre insofern überflüssig gewesen , hätte das Gerücht nicht bis in unsere Tage (2010) eine faule Sprosse getrieben. Noch immer fragt mich ein Mensch von hier ( 50 Jahre post Festum!), wenn er mir auf der Straße begegnet : „Hast du deine Primizgeschenke schon zurückgegeben?“

Gäbe es eine Ratingagentur für Verstand, Anstand, und theologisches wie religiöses Wissen, würde dieser Mensch auf der Skala ganz unter rangieren.

  1. Von ihm habe ich gar nichts bekommen, weil es noch Jahre dauerte, bis er Bürger von Abbach und Glied der Pfarrei Abbach wurde. Er stützt seinen Überschwang also nur auf Hören-Sagen und Altweibergetratsche
  2. Ich habe immerhin sieben Jahre nach meinem Studium und der Priesterweihe als Pfarrer der katholischen Kirche treu und fleißig gedient.
  3. Nach der Lehre der Kirche bin ich Priester immer noch und auf ewig. Durch das juristische, gottwidrige Konstrukt „Laisierung“ (was gar nicht geht) bin ich nur bei der Ausübung des Amtes gehindert. Daher die Bezeichnung „Priester ohne Amt“. Im Notfall (z. B. Todesgefahr) sei ich verpflichtet, das Amt auszuüben.
  4. Der Frager kann sich, wen er hinreichenden theologischen Sachverstand besitzt, in Gen 27,30 ( Geschichte um Isaak, Esau und Jakob) informieren, was Gott von einer sog. „Laisierung „hält.
  5. Ich habe als Lehrer in Ingolstadt – Friedrichshofen, nach Rückerhalt der Missio canonica, 10 Jahre lang, wöchentlich drei Religionsstunden – über mein reguläres Stundenmaß als Lehrer hinaus – gratis und ohne die übliche Bezahlung gehalten, nur damit ich dieser Kirche nichts mehr schuldig bin.
  6. Ich habe auch der Kirche von Abbach „Schulden-Reste“ als Archivar bei der kostenlosen Ordnung des Abbacher und Poikamer Pfarrarchivs zurückerstattet. Außerdem organisierte ich mehrere Ausstellungen zu kirchlichen Themen. Dies alles geschah ehrenamtlich.
  7. Ich habe allen Abbachern durch meine intensive 10-jährige, kostenlose Arbeit am Gemeindearchiv alles zurückerstattet, was sie mir vielleicht einmal geschenkt haben.
  8. Ich darf gar nicht an all das denken, was mir die Kirche, auch die Kirche von Abbach, schuldig wäre, für das, was sie mir und meiner Familie zur Zeit meines Berufswechsels Böses zugefügt hat. (Siehe meine Bücher „Für einen gefallenen Engel beten sie nicht“ und „Wahrhaftigkeit – Priester sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Letzteres Buch, herausgegeben von Bernd Marz, einem Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn, wurde in seiner ganzen Auflage (5000 Stück) kurz nach dem Erscheinen beim Patmos Verlag in Düsseldorf, leider in seiner ganzen noch verfügbaren Stückzahl von einer Stelle der Erzdiözese Koln mit dem Zwang zur Nicht-Wieder-Auflage weggekauft, damit es nicht unter die Leute kam. Das war ein typischer Fall von Vertuschung!))

Dem Ignoranten und seinen Hinterleuten, sofern er solche noch hat, gebe ich also mit gutem Gewissen an dieser Stelle zur Antwort: „Ich habe mehr als alles zurückbezahlt!“

Von |2023-12-02T13:36:46+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare

100: Zum Schluss des Lesebuchs in eigener Sache

Heute, am 05.05.2010, ist meine offizielle Zeit als Archivar von Bad Abbach nach genau 10 Jahren zu Ende. Ich werde in der kommenden Zeit lediglich den neuen Archivar, Dr. Georg Köglmeier, Akademischen Oberrat am Lehrstuhl für bayerische Geschichte an der Uni Regensburg, so weit es meine Gesundheit zulässt, verteten und unterstützen.
Ich danke dem Marktgemeinderat, dass er mir durch seine Zustimmung zu meiner Bitte, in der Nachfolgerfrage noch zu meinen Lebzeiten Einfluß nehmen zu dürfen, Gewissheit gab, wie es nach mir an dieser Stelle weitergeht.
Ich wiederhole zu diesem Zeitpunkt, was ich am 26.03.2003 bei einem Vortrag im Kursaal zum Einzug des Archivs iins alte Schulhaus auf der Schulbruck an Erwartungen und Vorstellungen, wer das Archiv jeweils betreuen soll, gesagt habe.
Ich glaube, dass ich selbst diesen Erwartungen gerecht geworden bin.
„Schon in der „Neuverbesserten Instruktion“, was die bürgerlichen Obrigkeiten in Städten und Märkten des Chufürstentums und der Landen zu Bayern (..) künftig absonderlich in Obacht zu nehmen und gehorsamst zu vollziehen haben“, ist die Aufgabe des Archivars dem Marktschreiber zugedacht. (Churfürst Maximilian Josef 1748).
In Artikel 5 und 11 heißt es:
„So haben die bürgerlichen Obrigkeiten solche Leuth für Stadt- oder Marktschreiber auszusehen, von welchen man eines guten , und gewissenhaften Lebenswandels, beinebst aber auch einer hinterlegt guten nothwendigen Praxis (.)versichert sein könne, nicht aber den Antrag dahin nehmen, dass ein unerfahrener Mensch (.) angestellt werde (…)
Es soll auch darauf geachtet werden, dass ihnen verfänglich eingebunden , auch darauf mit Eifer gesehen werden solle, damit sie die Registratur an verwahrten, abgesonderten Orten in guter Ordnung halten, (…)“
In dem Schreiben des Königlichen Allgemeinen Reichsarchivs vom 17. Mai 1912 wird dem Markt Abbach empfohlen : „Es ist nun Sache der Marktsverwaltung, einer geeigneten Persönlichkeit diese Arbeit zu übertragen“.
Wer diese Qualifikation aufweist, wird wohl von Fall zu Fall entschieden werden müssen.
Es kann sicherlich auf keinen Fall als angemessen erachtet werden, dass keine Persönlichkeit für diese Aufgabe zur Verfügung steht, und das Archiv sich wieder selbst überlassen bleibt.
Nach meiner Empfehlung müsste ein Archivpfleger zu erkennen geben, dass sich seine Aufgabe nicht nur in Registraturarbeiten erschöpft, dass er historisch kombinieren kann und kreativ ist.
Sein unentgeltliches Ehrenamt darf ihn nicht zur Beliebigkeit verleiten, sondern er muß sich aus innerem Antrieb zur Verlässlichkeit angetrieben fühlen, alles in der Gemeinde aufzusammeln, was für die Nachwelt Bedeutung haben kann.
Absolute Verschwiegenheit über geschützte Daten muss vorausgesetzt werden können. Die hier lagernden Schulakten sind streng geschützt, einer betroffenen Person darf nur einer der Schulleiter auf schriftlichen Antrag Einblick gewähren ,oder durch gerichtliche Anordnung kann eine Akte herausgenommen werden müssen, aber nur gegen Revers.
Ich füge heute hinzu, dass ich in 10 Jahren ein nicht überall übliches, analoges Archiv geschaffen habe, das jeder anschauen kann. Ich habe am Ende meiner Zeit aber auch ein „online archiv“ zu bieten, was nicht überall selbstverständlich ist. Darin finden Sie neben vielem Anderen das „vorläufige Archiv“ mit den wertvollsten Daten der Großgemeinde, das „Archiv neu“, das Sachgebiets mäßig geordnet ist, eine „Übersicht über die wichtigsten Abbacher Urkunden,“ das „Lesebuch“ mit 100 Aufsätzen zur Geschichte von Abbach – eine neue Abbacher Geschichte – die Kunstsammlung „Werke Abbacher Maler und Motive.“
In Zukunft wünsche ich „meinem“ Archiv eine glückliche Zukunft unter meinem Nachfolger Dr. Georg Köglmeier! ad multos annos!

Von |2023-12-02T12:18:35+01:002. Dezember 2023|Lesebuch|0 Kommentare
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