Die eigentlichen Erzieher, Vater und Lehrer, waren in der Kriegszeit weithin ausgefallen. Man war als Kind und Heranwachsender weithin in der Entfaltung seiner Kräfte und Fähigkeiten auf sich selbst gestellt. Und der Erfolg ließ sich in den meisten Fällen hernach auch sehen:
So besitze ich heute noch die Fähigkeit, wenn ich mag, aus nichts und mit nichts etwas zu machen. Fast jeder Notstand lässt sich so beheben.Als ich ein Kind war, lernte ich, jeden Rest zu verwerten und die Dinge zu hinterfragen, was man aus ihnen machen kann. Den Hang zur Perfektion oder Konfektion gab es damals nicht.Jedes Stück war ein Modellstück, denn der Stoff oder das Material zu zwei gleichen Exemplaren war nicht vorhanden.
Ich erwarb ein breit gestreutes praktisches Wissen: Schnaps verstand ich zu brennen, Tabak zu pflanzen, Schusser zu backen und zu lackieren, mit Pulver und Blei umzugehen. In den Granatenkartuschen fand ich noch Wachs (Sterin), mit dem ich Christbaumkerzen zog. Ich fertigte Hausschuhe aus Roggenstroh und Stoffresten. Dazu flocht ich lange, schmale Zopfstränge, die ich auf einen vom Schuster ausgeliehenen Leisten aufbaute. Ich sott Kernseife aus Seifenstein und Rindertalg, fertigte Schuhchreme aus Wachs und Ruß aus dem Ofenrohr, legte ganze Wassereimer voll Bismarckheringe ein, die ich aus der Donau fischte. Aus Staniolstreifen, die die feindlichen Bomber zur Disorientierung der Flak (= Fliegerabwehkanone) abwarfen, schnitt ich Lametta für den Christbaum.
Mit den Gesetzen der Physik und Biologie pflog ich spielerischen Umgang: Hebel, Rolle, schiefe Ebene, Reibung und Beschleunigung nutzte ich bei meinen Zügen in die umliegenden Wälder, um Brennbares zu finden und zu sammeln. Ich entdeckte, dass Birkenholz auch in grünem Zustand im Ofen brennt. Weil Sämereien Mangelware waren, zog ich die benötigten Sorten selbst, um sie auf engstem Raum auszubringen: Kisten und Büchsen, Dachrinnen zwischen anliegenden Häusern und urbar gemachte Lichtungen zwischen Donauschilf und Weidenbüschen waren mein Garten Eden.
Einmal sammelte ich im Herbst einen Kartoffelsack voll Kastanien, um sie einem Jäger oder Schäfer für die Winterfütterung zu verkaufen. Weil aber der Markt in Folge des äußerst fruchtbaren Kastanienjahres übersättigt war, blieb ich auf meiner Ware sitzen. Nun stand der Sack einen Monat da, und ich überlegte unentwegt, was ich mit dem ungefragten Schatz anfangen könnte. Ich schnitzte Schwammerln, Männchen und Körbchen. Haufenweise reihte ich sie mit Hilfe einer Schnur zu Halsketten auf und schenkte sie befreundeten Mädchen. Endlich säte ich überall Kastanienbäume, wo ich meinte, dass ich der Natur einen Gefallen tat.
Aber immer noch stand ein halber Sack der braun-weiß glänzenden Frucht herum. Oft rührte ich sie um, schüttete sie aus einem Sack in den anderen, lüftete sie häufig, damit sie nicht verschimmelte. Doch eines Tages war ich der Plackerei überdrüssig und ich ließ mich dazu verleiten, sie als Wurfgeschosse zu missbrauchen. Wahllos schleuderte ich sie über die Hausdächer und Hinterhöfe in alle Himmelsrichtungen, ohne zu prüfen, wo sie landeten. Sie prasselten auf Hausdächer, landeten auf Straßen und in Gassen, sie flogen in Fensterscheiben und auf Blechabdeckungen.
Da hörte ich Stimmen, die jammerten und schimpften. Sie riefen sich zu und fragten nach dem Übeltäter. Offenbar hatte ich drei oder vier Häuser weiter das Backstubenfenster des Hermannbböck (später Jost) zum Klirren gebracht. Da war mein Schicksal besiegelt. Der Hermannböck vermutete sofort die Ursache im Hof der Konkurrenz, nämlich beim Nösnerböck. Mit seinen Riesenpranken haute er mir mächtig fauchend ein paar „Fotzen“ oder Watschen herunter. Den geschulterten Mehlschurz haute er mir ein paar Mal um den Kopf, dass es wie in einem Mehltrog staubte. Er packte mich am Arm und wollte von meiner Mutter Genugtuung haben. Glücklicherweise war sie aber nicht zu Hause!
Das Glas im zerbrochenen Fenster ließ sich ohnehin nicht ersetzen, weil es keines gab. Es mussten bestimmt ein paar Pappkartons eingesetzt werden. Das konnte meiner Meinung nach nichts schaden, weil man Nachts die Fenster so wie so mit schwarzem Verdunkelungspapier abdichten musste. Es durfte wegen des Verbots der Nachtarbeit kein einziger Lichtstrahl nach außen dringen.
Was ich aus diesem Zwischenfall lernte, war der Einblick in das Kausalitätsprinzip. Ich sah ein, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt.. Weil man für alles damals einen weisen Spruch bemühte, erkannte ich auch, dass nichts so fein gesponnen ist, dass es nicht an die Sonne käme. Daher versuchte ich es ab jetzt mit dem klugen Rat der Mutter: Erst denken, dann handeln. Aber es bewahrheitete sich auch bei mir sehr bald ein allgemein menschlicher Befund: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!
Gleich neben uns befand sich die Wurstküche des Metzgers Josef Hof, der noch im Krieg weilte. Darum hatte sich dort die sog. Volksküche etabliert. Täglich garte dort in großen Kesseln und Töpfen der Eintopf für Scharen von Flüchtlingen, die täglich neu aus dem Osten kommend unseren Markt übervölkerten. Diese hatten nur notdürftige Quartiere in unseren Häusern gefunden. Ihnen standen keine Herde oder Öfen zur Verfügung, auf denen man hätte kochen können. Aber sie hatten Hunger und verköstigten sich und ihre Familien aus der Gulaschkanone von nebenan. Jeder der kam, bekam einen „Schlag“ in das Feldgeschirr oder in sonst was. In Reih und Glied standen die fremden Menschen Schlange. Sie mussten den barschen und forschen Kommandos des Arthur Schulz folgen, der sich Flüchtlingsobmann nannte. Die Eintopfköchin hieß Frau Neumann. Ich empfand auf der Hofmauer hockend Mitleid mit den armen Leuten, die der Hunger plagte. Oder vielleicht war ich auch neidig auf den mir nicht zugänglichen Futtertrog.
Wie eine undifferenzierte Äußerung eines unzufriedenen Erwachsenen das Hirn eines Kindes blockieren kann, wäre in Kurzform nicht zu schildern. Denn Schulz hasste ich, und ich habe ihn auch gestraft. Welche Folgen es hatte, muss ich verschweigen. Gegen die Neumann hatte ich nichts, weil sie hübsch war, was ein Vorzug ist, den Männer schätzen. Meine Mutter war mit mir gnädig und bemerkte nur: „Du bist noch ein dummer Bub und wirst im Leben noch viel lernen müssen!“
Später wurde Schulz sogar noch ein Freund von mir und ein Sangesbruder. Er wurde sogar Kunde meines Vaters, was alle Vorbehalte überwand.
Gleich nach dem Kriege war man für jeden essbaren Bissen dankbar. Im Kochzipfel gab es in der Metzgerei Fischer Rindsblutwürste, in die sich nur selten ein Speckstückchen verirrte. Um diese loszubringen, bedurfte es schon kräftiger Werbesprüche. So stand denn die kleine, runde Fischermetzgerin, die ihren oberpfälzer Dialekt nie ganz loswerden konnte, gelegentlich vor der Ladentür und rief: „Bluatzla gibt´s aus Rindsbluat!“
Da entschloss ich mich eines Tages, um ein paar Reichspfennige ein solches Exemplar zu kaufen. Essen konnte ich die Wurst nicht, sie wäre mir wie Fensterkitt im Halse stecken geblieben. Aber wenn sie schon da war, musste sie eine Verwendung finden:
Im Bad gab es eine Liegehalle für Kurgäste. Sie war zum Kurpark hin offen. Als ich einmal keinen anwesend fand, gestaltete ich im Ruckzuckverfahren mit der Blutwurst die eintönig weiß gestrichene Rückwand mit einem Spruchband : „(…)“ Den Inhalt des Spruches verrate ich nicht. Nur: Der Badbesitzer Höign ärgerte sich schwarz und blau. Aber die Zeit heilt Wunden, Höign lebte noch lange, er ist nach Jahren nicht an der Blutwurst gestorben, sondern an etwas anderem.
Von einer unbeliebten Beschäftigung, die mir die Großmutter in Saalhaupt aufhalste, muss ich noch berichten, dem Gänsehüten im und beim Espenweiher:
Ich trieb die 20 bis 30 Stück starke Herde den Abhang hinunter zum Weiher am Ortseingang in Richtung Abbach. Da waren alle Bauernkinder meines Alters in gleichem Auftrag gegen- wärtig. Der Auftrag hieß: Die Schnatterbande ist zusammenzuhalten und vor allem Schaden zu bewahren. Ich vertraute meinem besonders bösen Ganserer und suchte dazwischen allerhand Kurzweil. Den lästigen Job war ich bald los, denn meine Großmutter konnte nicht anders, als mich von diesem Posten abzuberufen, weil ich kläglich versagte. Nicht selten suchten die Gänse am Abend den Weg nach Hause alleine und von selbst. Sie schnatterten dann, dumm wie sie waren, ausgerechnet vor der Haustüre der Großmutter, und ich war erst eine Stunde später in Sicht.
Oft stand dann mein Großvater schon am Fenster, um nach vollbrachtem Tagwerk die Zeitung zu studieren. Er breitete sie immer auf dem breiten Fensterbrett aus, womit alte Bauernhäuser ausgezeichnet waren. In der Kuchl drinnen war es meist schon düster. Großvater kümmerten die Gänse so wenig wie mich, auch er hatte sich als Jugendlicher zu Höherem berufen gefühlt. Er musste aus dem Seminar nur nach Hause, weil den Bruder ein Pferd erschlagen hatte. Er hatte mit mir immer Verständnis und konnte nie verstehen, warum mich Großmutter immer so böse schimpfte, nachdem nie eine Gans fehlte.