Als ich am 25. Februar 2003 den Inhalt des Tresors im Rathaus zur Sichtung der wertvollsten Urkunden des Marktes Bad Abbach übernahm[1], entdeckte ich zwischen einer begrenzten Zahl von Kleinodien und einer Menge uralter Schriftstücke ein Büchlein, das ich an diesem Platze als Irrläufer empfand. „Führer durch die deutschen Heilanstalten“ war es betitelt. Es war vom „Verband Deutscher ärztlicher Heilanstalts-Besitzer und –Leiter“ im Bäder-Verlag, Berlin W 57 herausgegeben. Es fehlt die Jahreszahl der Herausgabe. Aus der Einleitung und der graphischen Gestaltung kann man aber darauf schließen, dass das Werk zum Ende der Weimarer Republik herauskam, als Hitlers Wahnvorstellung von der „Gesundheit des deutschen Volkes“ bereits aufkeimte und zur Morgendämmerung anstand.[2]
„(…) Möge er (der Führer, die Schrift, A.d.V.) für die deutschen ärztlichen Heilanstaltsbesitzer und –Leiter ein weiteres Bindemittel zum festen Zusammenschluss sein, damit wir trotz oder vielmehr gerade wegen des tiefen Niederganges unseres Volkstums unsere für die Gesundheit des deutschen Volkes so wichtigen Aufgaben immer besser und vollkommener erfüllen können.“
Warum war dieses verschlissene Büchlein in dieser finsteren Abgeschiedenheit versteckt, wobei viel bedeutendere Akten und Schriftstücke in unbedeutendere Ecken geworfen und allen interessierten Blicken freigegeben waren?
Gebe Gott, dass ich nicht Recht habe, aber es entstand in mir der Verdacht, dass ein leitendes Mitglied der Marktgemeindeverwaltung, das zum Tresor Zugang hatte, sich für einen aktuellen Fall in einer bestimmten Zeit kundig machen wollte, was aber hernach, als die Erinnerung an einen entglittenen Zugriff nicht mehr opportun war, wenn schon nicht ausgemerzt, so doch versteckt sein sollte.
Diese Entdeckung ließ mich in Anbetracht des selbst erlebten tragischen Falles während der Kriegszeit (1940 etc.) nicht mehr ruhen, und ich begann im Jahr 2003 eifrig zu recherchieren. Ich befragte eine Vielzahl von noch lebenden Zeitzeugen und vor allem Klassenkameraden und Altersgenossen. Was ich dabei erfuhr, möchte ich im folgenden Artikel aufzeigen.
Um 1940 lebte unter uns ein junger Mensch mit dem Namen Karl Robold, ein Kerl, der sich zu einem stämmigen Mannsbild entwickelte, kerngesund wie es schien, aber geistig biederer Natur, lustig, stets zu „Gesang“ , Späßen und Unsinn aufgelegt, von seinem Hauptlehrer oft gehänselt, und in einer 1500-Seelen-Gemeinde, wie Bad Abbach es damals war, allseits bekannt, aber ungefährlich und allgemein geduldet. Man hielt ihn für einen fröhlichen Idioten und gab ihm den Spitznamen Gowitsch(ko). Plötzlich aber war er verschwunden, keiner wusste wohin. Es hieß, er sei gegen den Willen der Familie in ein Heim für geistig Beschränkte eingewiesen worden. Wo sich die Anstalt befand, wusste angeblich keiner. Es gab aber Vermutungen, aber die Leute im „Geisthaus“ waren für geeignete Maßnahmen hilflos und hatten ohnehin in Abbach keine Lobby.
Der Krieg neigte sich dem Ende zu und da erreichte – wie es hieß – die Familie und den Ort die Nachricht, dass der Gowitschko gestorben sei. Bei gebotener Vorsicht zog man den Schluss, der arme Kerl sei bei Versuchen an geistig behinderten Menschen – man wusste nicht wo – umgebracht worden. Der Ausdruck „Euthanasie“ war Wissenden auch in Abbach bereits ein gängiger Begriff. geworden.
Altersgenossen, die kurz nach dem Krieg nach Hause kamen, wurde die Geschichte vom Verschwinden des Gowitsch erzählt, wie mir einige Betroffene berichteten.
Sobald ich als Archivar die Möglichkeit des Zugriffs zu Abbacher Akten hatte, suchte ich nach einschlägigen Hinweisen und Quellen. In der sog. Militärstammrolle von 1926 wurde ich fündig und meine Erinnerung an früher hielt ich für bestätigt.
Im Jahre 1943 wurde für die männlichen Jugendlichen des Jahrgang 1926 die Wehrstammrolle angelegt. Der Jahrgang umfasste 11 junge Männer, unter ihnen Karl Robold. Das Erfassungspapier sah die polizeiliche, kriminalpolizeiliche und politische Durchleuchtung des Probanden vor.
Für 10 Beteiligte gaben der Bürgermeister und der Landrat in Kelheim ohne weitere Untersuchung ihre Unbedenklichkeit bekannt.
Bei Karl Robold verlief die Angelegenheit anders. Es wurde die Polizeidirektion Regensburg, die Staatliche Kriminalpolizei Regensburg (am 13.5.43) und die Geheime Staatspolizei Regensburg (am 14.5.43) eingeschaltet.
Karl Robold befand sich wegen angeblicher Schizophrenie seit 17.9.1941 in Karthaus 1 [3]
Karl Robold war bei seiner Einlieferung 15 Jahre alt. Eine Sterbeurkunde gibt es am hiesigen Standesamt nicht, weil er ja in Karthaus Regensburg gestorben ist.
Auf die Geburtsurkunde hatte ich hier im Standesamt Zugriff.[4] Unter Nr. 31 des Jahres 1926 fand ich die Notiz, dass er am 4.6.1945 gestorben sei ( Standesamt Regensburg 1595/1945).
Diese Notiz ermöglichte mir, dass ich mich für Auskünfte aus der Sterbematrikel an das Stadtarchiv in Regensburg wenden konnte. Dort erfuhr ich, dass die Notiz in der Geburtsmatrikel von Bad Abbach zwar korrekt sei , aber bis zum Jahre 1953 am Sterbeeintrag Veränderungen vorgenommen worden seien, was auffallend und ungewöhnlich sei. Eine Kopie wurde mir auf meine Bitte hin zugestellt. [5]
Karl Robold starb offiziell also am 4. Juni des Jahres 1945, noch nicht einmal einen Monat, nachdem der Krieg aus war (8. Mai !). Er war noch nicht 18 Jahre alt. Als Todesursache ist Schizophrenie und Herzinsuffizienz im Matrikeleintrag angegeben. Letztere Ursache war bei ähnlichen Fällen immer angeführt, bei Karl Robold aber unverständlich. Den Tod meldete der Ausgeher Eduard Schmid aus Karthausprüll 1 mündlich ohne schriftliche Anzeige beim Standesamt in Regensburg.
Aber die Familie hatte, wie bekannt wurde, noch im Krieg, die Botschaft vom Tod des Sohnes erhalten.
Es stellt sich die Frage: Wann und woran starb Karl Robold wirklich, und was ist mit ihm in Karthaus gemacht worden, dass er in diesem blühenden Alter von 18 Jahren zu Grunde ging? Vermutlich gibt es auf die Frage keine Antwort mehr!
Aus der Geburtsmatrikel von Bad Abbach entnahm ich, dass Karl Robold der illegitime Sohn der ledigen landwirtschaftlichen Dienstmagd Anna Robold, wohnhaft in Abbach Schlossberg 17 1/3, dem sog. Geisthaus, war und am 7. August 1926 geboren wurde.
Die Mutter starb als Anna Stierr in Mittweida/Sachsen NB. Wenn jemand aus dem „Geisthaus“ stammte, war das damals nach gängiger Meinung hier zu Orte ein Geburtsfehler.
Bei Google, zum Stichwort „Regensburg/ Karthaus/ Euthanasie“, finden wir einen Hinweis auf „Wochenblatt“ vom 07.11.2011 zum Thema „Gedenken an Opfer des Nazi-Wahns in Karthaus“. Sie lesen : „641 Behinderte und psychisch Kranke fielen dem Rassenwahn in Regensburg ( allein 1940 bis 1941. A.d.V.) zum Opfer.(… ) Die nationalsozialistische Ideologie machte sich den damals gängigen eugenischen Gedanken der Wissenschaft zu Nutze, um dem sogenannten „lebensunwerten Leben“ den „Gnadentod“ zu gewähren. (…) . Die Angehörigen wurden mit bürokratischen „Trostbriefen“ zum Schicksal ihrer nächsten Verwandten getäuscht. Mit falschen Angaben, was die Zeit der Verlegung, des Todeszeitpunkts und der Todesursache anging, versuchte man die Bevölkerung zu beruhigen (…)“
Bei meinen weiteren Recherchen zur Euthanasie fand ich im Internet (Google) den Artikel „Euthanasie“ im NS-Staat: Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“, eine Besprechung des gleichnamigen Buches von Ernst Klee (Fischer Taschenbuch).
Dort heißt es, dass mit diesem Buch es zum ersten Male gelungen sei, „ bisher noch nie publiziertes Material ( zur Euthanasie. A.d.V.)zu entdecken. So ist es erstmals möglich geworden, umfassend die Tötungen von Geisteskranken, alten und behinderten Menschen zu dokumentieren und auch das Schicksal der Fürsorgezöglinge, Alkoholkranken, Arbeitslosen und der anderen Gemeinschaftsunfähigen oder „Asozialen“ nachzuzeichnen. (…)“[6]
In der Besprechung des Buches für Amazon durch Joachim Hohwieler [7] heißt es weiter: „Jede Gesellschaft hat kranke oder behinderte Mitbürger. Menschen auf die man besonders eingehen muss, die der Hilfestellung bedürfen. In der nationalsozialistischen Ideologie jedoch werden solche Personen schlicht und menschenverachtend als „lebensunwert“ deklariert, da sie für die NS-Welt keinen produktiven Beitrag darstellen. Die widerwärtige Konsequenz solchen Denkens war die Euthanasie. Diese Tötung behinderter, kranker oder alter Personen (sowie angeblich „Arbeitscheuer“) ist eines der abstoßendsten Kapitel des Nationalsozialismus, wurde hier doch in vermeintlichen Heilanstalten und unter Mitarbeit der Ärzte und Schwestern Massenmord an denen begangen, um die man sich hätte kümmern sollen.. (…)“
Die widerliche Praxis betraf also auch unseren Heimatort, darum gehört sie , wenn ich ehrlich sein will, zur Summe der Ereignisse, die ich im Online- Lesebuch berichtet habe. In der Druckausgabe „Bad Abbach – unser historisches, kulturelles und soziales Erbe“ wollte ich nicht davon berichten.
Heuer (2013) wurde am Sonntag, dem 27.Januar, der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland“ begangen.
Möge dem Land und Ort in Zukunft eine ähnliche Grausamkeit erspart bleiben!
Daten zur Erinnerung:
Weltkrieg: Kriegsbeginn 1914 : 01. 08.
1. Weltkrieg: Kriegsende 1918 : 11. 11.
2. Weltkrieg: Kriegsbeginn 1939 : 01. 09.
3. Weltkrieg: Kriegsende 1945: 08. 05.
[1] Übernahmeprotololl vom 25.02.2003.
[2] Verband Deutscher ärztlicher Heilanstalts-Besitzer und –Leiter.
Führer durch die deutschen Heilanstalten. Bäder-Verlag G.m.b.H.Berlin, W.57. o.J. Archiv XXIV.33.4.1.c.
[3] Aufenthaltsmeldung Nr. 567/ Anlegebogen zu Wehrstammrolle für den Jahrgang 1926. ArchivXV,14.1.2.b. Ab – legemappe.
[4] Geburtenmatrikel Nr.31/1926, Standesamt Bad Abbach, Auskunft vom 7.12.2011.
[5] Kopie des Sterbeeintrags vom 4. Juni 1945. Archiv XV.14.1.2.b
[6] Buchbesprechung zu Ernst Klee. Euthanasie im NS-Staat: Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Fischer Taschenbuch. 2009.
[7] A.a.O.