Die Zeit, um die es hier geht, umfasst die Spanne von der Kaiserzeit in den 1870er Jahren bis zum sog. Dritten Reich 1933. Die sozialen Verhältnisse und Personen schildere ich am authentischsten mit Daten aus der eigenen Familie, weil ich dabei auf sichere schriftliche Zeugnisse zugreifen kann.

Mein Vater, Alfons Kraus (*1906+1968) Schneidermeister, Postbote, Musikant, war das Kind kleiner, aber angesehener Leute hier zu Abbach.
Sein Vater war Karl Kraus(*1872+1926), Schneidermeister, Wirt in der Dirigl-Keller-/ Schreiner- Kellerwirtschaft, Musikus, Fleischbeschauer.
Der Vorgänger hieß Xaver Kraus (*1847+1920) und hatte den Beruf des Brandmetzgers, Musikus und Fleischbeschauers.
Sie alle hinterließen ihre Spuren in den hiesigen Archivakten, wo sie in den Tax- und Gebührenregistern als treue Steuer- und Gebührenzahler Erwähnung finden.[1]
Beginnen wir mit dem Großvater:
Er wurde streng erzogen, was sich bei meinem Vater wiederholte. Großvater zeugte mit drei Frauen, von denen zwei im Kindbett starben, 20 Kinder. Von ihnen erreichten allerdings nur acht das Erwachsenenalter. Die medizinische Versorgung war in seiner Zeit noch unterentwickelt, der Tod aber allgegenwärtig. Auch er selbst starb schon mit 55 Jahren an Blutvergiftung.
Besonders in der Inflation der 1920er Jahre tat er sich schwer, seine Familie über die Runden zu bringen. Besonders die Arzt- und Apothekerkosten schnellten unerbittlich in die Höhe. Aber er fand auch in dieser Zeit einen Weg, mit den Seinen zu existieren. Er arbeitete schließlich in seinem Schneidergeschäft nur mehr gegen Ware. Es ereignete sich schon einmal, dass er für das Schneidern eines ganzen Anzugs am Tag darauf, nach der Ablieferung, nur mehr einen Laib Brot bekam.
Am 21. Oktober 1923 notierte er in seinem Tagebuch unter Einnahmen, dass er für Neumeier in Peising einen Anzug um 1.500.000.000.00 M ( = 1 Milliarde 500 Millionen) abgeliefert hat. Am gleichen Tage sehe ich unter Ausgaben die Notierung für 100m Zwirn im Gemischtwarengeschäft Karl zu 500.000. 000.- (500 Millionen) M.
Am 20. Oktober gab Großmutter für den Haushalt 2 Milliarden 20 Millionen aus. Für Zucker, leistete sie am 8. Oktober eine Anzahlung von 187 Millionen, für die gleiche Menge am 16. Oktober schon von 225 Millionen.
Die Jahresabrechnung 1923 weist astronomische Zahlen aus, mit denen wir Heutigen nur mehr schwer rechnen können:
Summe der Einnahmen: 33.967.068.211.530 M ( 33 Billionen!)
Summe der Ausgaben : 20.819.720.082.631 M
Kassenstand Rest : 13.147.388.129.899 M[2]
Die Familie galt hier zu Abbach als anerkannte Musikantenfamilie. So hatte sie eine zusätzliche Einnahmequelle! Jedes Familienmitglied musste wenigstens ein Instrument erlernen. Nach hiesigen Akten spielten sie bei verschiedenen Anlässen, besonders Hochzeiten, Begräbnissen, Tanzveranstaltungen und Feiern aller Art. Das Familienunternehmen beherrschte um 1910 Ziehharmonika, C-Trompete, Violine, Kontrabass, Gitarre, Zitter – je nach Bedarf.
In einer Vereins- Mitgliederliste von 1920 wird mein Urgroßvater Xaver Kraus als Gründungsmitglied der Liedertafel aufgeführt. Seine Stimmlage war Bass.
1952 war mein Vater dabei, als die Liedertafel nach dem 2. Weltkrieg wieder gegründet wurde. Seine Stimmlage war Tenor. Auch ich selbst war ab da eingeschriebenes Mitglied.

Bild von 1918. Von links Urgoßmutter und Urgroßvater, in der Mitte mein Vater, dann Onkel und Tante. Großvater war im Krieg!
Bild von 1918. Von links Urgoßmutter und Urgroßvater, in der Mitte mein Vater, dann Onkel und Tante. Großvater war im Krieg!

Die Musikleidenschaft und Gastronomie prägte auch sehr stark den Lebensstil und die Eigenart der Familienmitglieder. Fangen wir bei der Kellerwirtschaft an. Sie stand dort, wo heute die evangelische Kirche steht. Urgroßvater war Metzger, Großvater Wirt. Großmutter war gelernte Köchin. Großvater hatte sie von der Karmeliterwirtschaft in Regensburg weggeheiratet.
Die Töchter mussten bedienen, die Söhne Kegel aufstellen und die Biertische im Garten abräumen. Dabei wurde nichts weggeschüttet, sondern leergetrunken. Das Geld, das die Kinder bei ihren Verrichtungen erhielten, durften sie nicht behalten, sondern mussten sie bei den Eltern abliefern. Dies taten sie nur widerwillig, wie mir Tante Marie einmal vorwurfsvoll berichtete.
Nun zu meinem Vater Alfons Kraus:
Meine Mutter erzählte mir oft, welche Erfahrungen sie im ersten Ehejahr mit „Bruder Leichtfuß“, machte. Sie habe ihn erst „richten“ müssen. Wenn er als Musikant aufspielte, brachte er in der Aktentasche zwar einen Haufen Hartgeld mit nach Hause, manchmal aber auch einen kapitalen Rausch. Am Tag darauf verspürte er in der Regel wenig Freude für seine Arbeit als Schneider. Das „Richten“ reichte von „Bocken“ bis zu heftigem Ausschimpfen. So machte sie ihn gefügig und zähmte ihn allmählich.
Manchmal brach Papa aus dieser Umklammerung aus. Ein Beispiel:
Einmal versteckte er auf dem Nach-Hause-Weg seine Trompete nach einer röhlichen Tanzmusik schnell einmal unter einem Holzstapel der Schreinerei Alfons Hofmann im Kochzipfel, um zum Rest der Mannschaft zurückzukehren.
Auf dem Heimweg in der Nacht konnte er sich nicht mehr erinnern, wo er die Trompete versteckt hatte, und es fiel ihm den ganzen Winter hindurch nicht mehr ein. Erst als der Schreiner im Frühjahr die Bretter brauchte, tauchte die Trompete wieder auf. Trotz des glücklichen Umstands verursachte dies zu Hause ein Höllenspektakel.
Papa spielte dieses Instrument bis in seine alten Tage. Darum war er auch nach dem Kriege noch Hornist bei der Feuerwehr, bei der er, wie ich mich erinnere, im Katastrophenfall immer als Erster ausrücken musste.
Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1926 übernahm er ohne Zögern die Schneiderei. 1937 war er bereits Schneidermeister. Er und sein Bruder Josef wohnten noch bei der Mutter Katharina in Hs. Nr. 14 (neben der Bäckerei, damals Weber, dann Nößner, jetzt Müller).
In den 1930er Jahren herrschte eine allumfassende Arbeitslosigkeit. Das Geschäft meines Vaters schien nicht gerade zu florieren. Um das Nötige für sich und die unversorgte Mutter beizubringen, begann er als Arbeiter im Zementwerk Alkofen, das aber 1930 ebenfalls dicht machte.
Da begann meine Großmutter als Wäscherin „im Bad“. Sie bekam von Großvater ja keine Rente, weil es für selbständige Handwerker keine Versicherungspflicht gab. 1932 bis 1934 verlor sie im Bad vorübergehend ebenfalls ihre Arbeit. In dieser Zeit bezog sie, wie hundert Andere auch von der Gemeinde wöchentlich 3 RM Arbeitslosenunterstützung. In der äußersten Not verkaufte sie das Haus Nr. 14 an den benachbarten Metzger Josef Hof, behielt sich aber das Wohnrecht bis zu ihrem Lebensende vor. Dort lebte sie als unsere geliebteste Großmutter bis zu ihrem Tod. Sie starb 1941.
Papa wurde schon zum Polenkrieg zur Wehrmacht eingezogen. 1940 war er Gefreiter. Mama erhielt für sich und zwei Kinder monatlich 59.50 RM Unterhaltsleistung. 1944 wurde Papa Obergefreiter. Ab da bezog Mama 119 RM.
Andere Familien mochten ein ähnliches Schicksal gehabt haben. Es gäbe viel Stoff, um sich prächtig zu unterhalten!
In der folgenden Abhandlung „Alles für Gott?“geht es um mich, der die obige Familiengeschichte bis zu seinem seligen, wie ich hoffe, Ende fortsetzt.
[1] Z.B.Taxregister 1876,1899; Gebührenregister 1881, 1900; Einnahmenbelege 1911; Umlagenheberegister 1912, 1925. Archiv XIII.21.
[2] Tagebuch meines Großvaters Karl Kraus von 1923. Privatbesitz.