An dieser Stelle erwachen Erinnerungen an meinen seligen Vater. Ich hing sehr an ihm. Er war mir ein guter Kumpel, der viel Verständnis für mich hatte. Einmal im Jahr, nämlich zu Weihnachten, wenn wir den Christbaum im Wald holten, gehörte er mir ganz alleine.
(hier sei daran erinnert, dass es die häufigen Christbaummärkte an geschäftlich zweckdienlich ausgesuchten Inner Orts Plätzen oder gar in Christbaumplantagen noch nicht gab, sondern dass man in fast allen Abbacher Familien den Christbaum, sofern man nicht selbst Waldbesitzer war, im fremden Wald „organisierte“, oder organisieren ließ, deutlicher gesagt, klaute)
Im stillen Winterwald waren wir beide ganz unter uns und führten Reden über das Gestern, Heute und Morgen, über Dieses und Jenes. Ich fand die Zweisamkeit mit dem Vater wohltuend. Den ganzen Tag brauchten wir jedes Mal, bis wir die geeignete junge Fichte endlich fanden.
Papa hatte jedes Mal vorher mit einem Bauern vereinbart – er hatte als Schneider und Postbote ja vielfachen Kontakt mit ihnen – dass im Falle einer Kontrolle durch einen Gendarm oder Förster die Erlaubnis zum Fällen des Baumes als erteilt galt. Allerdings sollte der Baum in einem ganz anderen, fremden Wald, gefällt werden, damit der „Gönner“ keinen Schaden hätte.
Die Fichte musste ohne Makel sein. Auf dem Heimweg wurde schon abgemacht, an welcher Stelle eventuell für ein Zusatz Ästchen der Bohrer angesetzt werden müsste und was hernach an dieser oder jener Stelle außer dem Lametta, den Kerzen, Glaskugeln und Ketten seinen Platz finden sollte.
Es musste ein prachtvoller Lichterbaum werden, der festlich stimmen könnte. Es sollte nicht wie zu Vaters Kinderzeit unter Großvaters Regie (um 1900) zugehen. Damals behing man, wie Papa erzählte, den Baum in der Regel mit Äpfeln, Knackwürsten, Brezeln und Plätzchen. Nach dem Klingelton stürzte die große Kinderschar heran, aß den Baum kahl und schon war abgeräumt. Der Baum hatte seine Schuldigkeit getan und von vorne herein erwartete man kein Aufkommen romantischer Gefühle.
Unser Papa wollte seiner Familie eine prachtvolle, gutbürgerliche Weihnacht ausrichten, und das fing nun einmal mit dem festlich geschmückten Christbaum an.
Auch meine Mutter sah im Christbaum, so weit ich mich zurückerinnern kann, ein nachhaltiges Symbol für Familiensinn, Zusammengehörigkeit und Zuneigung. In ihm kulminierten stärker als in anderen Sachen im Jahreslauf tiefe Gefühle, Liebe und Verlässlichkeit.
Sogar in der Zeit bittersten Mangels an Christbaumschmuck (1942 bis 1945) fanden die genannten tiefen familiären Werte ihren Ausdruck. Der traditionelle Bestand an Glaskugeln und die Chrisbaumspitze war in der Regel zwar vorhanden. Aber was jährlich verschlissen wurde, Kerzen und Lametta, gab es in den Läden nicht mehr zu kaufen.
Man musste sich behelfen: Ich kratze das hellbraune Wachs aus den Kartuschen der Flak (= Fliegerabwehrkanonen) und zog damit Christbaumkerzen. Aus den überall herumliegenden Staniolstreifen, die die feindlichen Flieger in der Luft verstreut hatten, um die Ortung der Luftabwehr zu verwirren, schnitt ich feines Lametta.
Trotzdem schickte Mama auch dann noch unserem Vater während des Krieges wie jedes Jahr vorher einen kleinen Christbaum als Feldpostpaket in einer Papierrolle sogar an die Front. Einmal, es war 1943 in seiner Schneiderbude in Russland, ließ er sich vor seinem Christbaum mit einem Kameraden fotografieren und schickte uns in der Heimat dieses Foto . Das war ein starkes Zeichen von Gemeinschaft trotz Trennung.
Als Papa gestorben war, erhielt er von Mama jedes Jahr in der erwähnten Gesinnung seinen Christbaum auf das Grab im alten Friedhof von Bad Abbach . Nach dem Tod unserer Mutter stieg ich – pflichtgemäß wie ich meine – in diese Tradition ein.