Ich hatte um das Jahr 1944 ein Erlebnis, das mich nachhaltig beschäftigte. Wegen der häufigen Luftangriffe auf das Meserschmitt – Flugzeugwerk in Regensburg – Prüfening sollten Teile der Rüstungsfabrik in den Wald zwischen Abbach und Saal verlegt werden. Beim Aumeier Altwasser , in der Nähe der Bergflur „Am Ring“, wurden Stollen in den Fels getrieben. Dort sollte im Schutz des Berges die Flugzeugproduktion weitergehen bis zum „Endsieg“.

Die Spreng- und Schachtarbeiten mussten russische Kriegsgefangene verrichten. Die Arbeiten endeten nicht selten tödlich. Für sie hatte man an der Straßengabelung Teugn / B 16 vor Saal ein Extralager errichtet. Es ging dort zu, wie in einem richtigen KZ ( = Konzentrationslager).

Ich begegnete einmal einem Trupp dieser armen, gequälten, ausgehungerten, entwürdigten Menschen. Meine Saalhaupter Großmutter Sophie Schmidbauer, die eine couragierte Frau war, war mit dem Pferdefuhrwerk auf der Landstraße unterwegs, um meiner Tante Rosl in Abensberg, ihrer Tochter, aus dem eigenen Wald Zaunstangen zu bringen. Ich saß hoch oben auf der Fuhre. Großmutter hatte erlaubt, sie zu begleiten.

Offensichtlich hatte sie von anderen Passanten schon von den Zuständen bei Saal gehört. So stieg sie ein Stück nach Teugn vom Wagen und nahm eine schwarze Riementasche zu sich. Die eine Hand führte die Pferde am Halfter, die andere trug die lederne Tasche. So passierte sie mit dem Fuhrwerk die via dolorosa (deutsch: die Marterstraße).

Wie erwartet wurden Trupps ausgemergelter Schemen hin- und hergetrieben. Die Augen steckten ihnen tief in den Höhlen. Unter den Lumpen, die sie bei der Kälte am Kopf und am Leibe trugen, sah man nichts als Haut und Knochen. Im Vorbeihuschen drückte sich dieser oder jener Russe an meine Großmutter heran und flehte: „ Panie, – chleba – proschi panie – chleba – proschi panotschko!“

Da griff meine Großmutter hastig in ihre Ledertasche und holte ein Stück Brot heraus, das sie dem Ärmsten zuschob.

Dies erregte aber die Aufmerksamkeit der anderen. Es gab ein Gedränge um meine Großmutter herum. Alle wollten etwas haben. Viele streckten die Hand aus und bettelten um die Barmherzigkeit eines Brotbissens.

Da preschte einer der SS-Bewacher herbei und schrie: „He, pascholl! Weg da!“ Er trieb die Russen wie ein Wachhund auseinander. Meiner Großmutter gegenüber ließ er seinem Zorn feien Lauf. Er trat ihr mit den Stiefeln in die Hüfte. Dann beeilte er sich, seine Schwadron zu ordnen.

Wir aber setzten unseren Weg mit dem Wagen fort. Großmutter setzte sich zu mir auf die Fuhre und sagte kein Wort mehr. Trotz der empfangenen Fußtritte war sie froh. Ihr sei auf diesem Weg Jesus begegnet , sagte sie einmal. So war sie überzeugt, weil sie eine gläubige und fromme Bauersfrau war.[1]

[1] Man verzeihe mir eine eventuell falsche Schreibweise der russischen Wörter. Ich bin dieser Sprache nicht kundig und kann mich nur an das Phonetische erinnern.