Ich wurde im Oktober 1933 geboren. So erlebte ich als Kind und Jugendlicher eine schlimme Folgezeit. Von Anfang an war mir das Schlamassel natürlich nicht bewusst, aber mit zunehmendem Alter spürte ich aus den Äußerungen meiner Eltern sehr früh intuitiv, dass sich da etwas entwickelte, wovor ihnen graute.
Am 30. Januar 1933 war Hitler Chef eines Präsidialparlaments geworden. Mit Hilfe gravierender Rechtsbrüche hatte sich eine brutale Diktatur angekündigt. Die Pressefreiheit war eingeschränkt worden. Die freien Länder waren nun mit Preußen vollständig gleichgeschaltet. Durch das Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 war der Rechtsstaat liquidiert. Der Beamtenapparat und die Justiz war von Demokraten und Deutschen jüdischer Abstammung schnell gesäubert.
Am 6.3.1933 schrieb mein Vater in sein Tagebuch, dass er 70 Pfennige bei einer Siegesfeier der SA eingenommen habe. Was hat die SA da bei einem Fackelzug mit Blasmusik wohl gefeiert? Den bereits erfolgten politischen Umbruch oder die Missetaten, die bald folgen sollten? Ich muss erinnern, dass mein Vater als Trompeter einer Orts ansässigen Blaskapelle auf Betreiben der Abbacher Nazis der ersten Stunde gegen sein Widerstreben mitzuwirken hatte. Die Feier war offenbar trotzdem beeindruckend und offenbarte den Gusto der neuen Kraft strotzenden Elite.
Der Bürgermeister, zugleich Ortsgruppenleiter der NSDAP, und der Ortsbauernführer hatten an dem pseudo-militärischen Ereignis offenbar Gefallen gefunden. Sie beschlossen die Gründung einer SA Blaskapelle, die man immer wieder brauchen könnte.
Mein Vater verweigerte aber den Beitritt zur SA und die Mitwirkung bei der Kapelle. Damit war das Projekt vorläufig gescheitert, weil es keinen Ersatz gab. Welch ein Frevel! Das sollte seine Folgen haben! Dies hat man meinem Vater nie vergessen. Aber mit seiner Weigerung, bei künftigen Events solcher Art künftig nicht mitzuwirken, begann für ihn und seine eben erst gegründete Familie ein folgenschweres und bitteres Dasein.
Im Jahre 1936 erfolgte der erste Streich gegen meinen Vater:
War nicht sein Vorfahre ein Judensohn? Sein Vater hieß nämlich Karl Kraus, geboren 1872. Dieser ließ einmal verlauten, dass seine Ahnen in Altenberg (im Volksmund „Altenbirg“) gelebt hätten. „Altenbirg also? Lag dieses Gebirg nicht in Österreich?“ Und in Österreich war doch gerade ein Karl Kraus, geboren 1874 als System-Kritiker und Schreiber verderblicher Bücher aufgefallen („Die Fackel“, A.d.V.)! Gab es da bei meinem Vater einen Geburtsfehler? Stammte er gar von einem Juden ab? Dieser Sache musste nachgegangen werden!
Es zeigte sich, dass die neuen Abbacher Herren eigentlich keine Abbacher waren. Sie kannten seit Jahrhunderten gewachsene familiäre Bindungen nicht. Auch einige bekannt-dumme Emporkömmlinge, die von nichts eine Ahnung hatten, waren politisch und gesellschaftlich nach oben geschwemmt worden. Und ihnen war die frühere Widerspenstigkeit meines Vaters noch erinnerlich.
Bis zur endgültigen Klarheit der nun herrschenden Riege wurde mein Vater für Wochen in „Schutzhaft“ genommen. Der „arische Nachweis“ erst brachte die Entlastung. Es stellte sich heraus: Die direkten Vorfahren lebten seit 1835 in Abbach und kamen aus Riedenburg. Der Pfarrer brachte es an den Tag.
Wer nahm meinen Vater auf diese Art in die Klemme? Waren es zwei ortsbekannte ledige Nazi-Damen? – Es wurde noch lange Zeit in der Familie gerätselt. Mir sind die Namen der Verdächtigen im Gedächtnis geblieben, aber aus Datengründen will ich sie nicht nennen.
Mein Vater wurde am 11.3.1940 nach Polen zur Wehrmacht eingezogen. Gleich hernach folgte der zweite Streich:
Meine Mutter bläute mir, ihrem sechs Jahre alten Sohn, immer wieder ein, dass ich ja niemand sage, was zu Hause so gesprochen wird. Auch dürfe ich in der Schule nicht sagen, was Papa aus dem Krieg schreibe.
In der Tat wurde ich in der Schule öftere Male danach gefragt, und ich antwortete immer: „ Er schreibt nur „ es grüßt dich und küsst dich dein (.)“.
Das war ja unverfänglich! Aber hatte ich jemals auch etwas Gefährliches gesagt?
Jedenfalls wurde meine Mutter unerwartet zur landwirtschaftlichen Arbeit dienstverpflichtet. Wo könnte sie diesen Dienst ableisten? war die Frage. Sie hatte Glück, ihr Vater war im nahen Saalhaupt während des ganzen Krieges geschäftsführender Bürgermeister und selbst Mitglied der Partei. Er hatte gute Verbindungen zur Kreisbehörde. So durfte meine Mutter auf seinem Hof den Dienst antreten. Sie sollte täglich mit dem Fahrrad zwischen Abbach und Saalhaupt verkehren. Bei der Rückkehr am Abend solle sie die Einkaufstasche bei einem am Ortsrand wohnenden SA Mann und rathausnahen Freund umkehren müssen, ob sie nicht etwas Essbares mitgebracht hätte. Das war ihr striktest untersagt worden.
Unmittelbar darauf folgte der dritte Streich:
Da meine Mutter angeblich wegen ihrer Pflicht nicht genügend Aufsicht über mich führen konnte, wurde ich selbst 1940 vor dem üblichen Lebensalter zur Hitlerjugend annektiert. Der Grund war sicher die ideologische Unzulässigkeit meiner Eltern und die Befürchtung schädlicher Einflüsse ihrerseits.
Ich war aber kein zuverlässiger „Pimpf“ und entzog mich weitgehend dem Einfluss des Fähnleinführers, der aus Elberfeld stammte und mir als Preuße sowieso in seiner Ausdrucksweise nicht entsprach.
Dies führte am 16. Oktober 1942 zum vierten Streich:
Frühmorgens, bevor meine Mutter sich auf den Weg nach Saalhaupt machte, erschien der genannte Fähnleinführer in unserer Wohnung und verlangte, dass ich ihn begleite. Wohin sollte ich folgen? Keine Auskunft. Es sei eben eine unabdingbare Obliegenheit zu erledigen. Unsererseits wurden meiner Erinnerung nach keine Bedenken laut. Aber was erwartete mich sogleich?
Im Eilschritt ging es den Ort hinaus, am Löwendenkmal vorbei in den sog Seidl-Steinbruch, an der glatten Grünsandsteinwand vorbei in die weite Schlucht. Da standen schon viele Männer, auch einige Frauen. Mäuschenstill stierten sie zur gleichen Stelle am linken Steilhang hinauf, wo emsiges Treiben stattfand. Die Leute in der Schlucht erkannte ich wegen ihrer Kleidung und Kennzeichnung als Gefangene. Sie sollten sich das Kommende geschehen gut merken. Aber was sollte ich dabei? Wozu wurde ich an diesen Ort geführt? Darüber wurde nie ein Wort gesprochen.
Ein langes Brett wurde über den Abgrund herausgeschoben, an einer Kiefer vorbei, die krumm über die Kante gewachsen war. An ihr war ein Strick angebunden. Bald erschien ein hagerer Mann, an dessen Hals das andere Ende des Strickes befestigt war. Nachdem er das Ende des Brettes erreicht hatte, schnappte dieses nach unten und schlug mit einem lauten Knall an die Felsenwand. Der Mann da oben war abgestürzt und regte sich nicht mehr. Durch die Menge unten ging ein dumpfes Raunen. Keiner sagte etwas. Ich sah zwar, dass da einer aufgeknüpft worden war, verstand aber nicht, warum dazu meine Anwesenheit nötig war.
Im Eilschritt ging es mit dem Fähnleinführer zum Ort zurück, bis zum Rathaus. Da blieben wir stehen, und allmählich folgten die zerlumpten Leute von vorher. Wir mussten warten, cirka eine Stunde, bis gegen Mittag. Da brachte man einen Bruckwagen, der nach seiner Art eine flache Ladefläche hatte. Gleich darauf wurde der Tote Mann darauf geworfen. Woher und wie sie ihn brachten ist mir nicht aufgefallen. Jeder Einzelne der Anwesenden musste um dem Wagen schreiten und sich den Gehenkten ansehen. Der Letzte, der an der Reihe war, war ich.
Ich prägte mir dieses Bild für mein Leben ein. Wenn es mir später durch den Kopf schoss, glaubte ich, ich hätte einen bösen Traum gehabt.
Erst nach dem Krieg wurde in Bad Abbach von diesem Vorfall geredet. Gewisse Leute wurden beschuldigt, aber niemand sprach es laut aus. Was war 1942 passiert? Was lag damals vor?
Es habe sich um einen polnischen Fremdarbeiter in einem Abbacher Handwerksbetrieb gehandelt, der sich zwei Mädchen unsittlich genähert haben soll. Eine der Mütter habe Anzeige erstattet. Bevor es zum Prozess gekommen sei, habe sich die Geheime Staatspolizei des Falles bemächtigt. Diese machte bekanntlich immer schnellen Prozess, der immer mit Tod endete.
Im Archiv suchte ich jetzt, vielleicht kurz vor dem Ende meiner Tage, den Wahrheitsgehalt meines bösen Traumes, der mich immer noch begleitet:
Der Mann war „Felix Haberko, römisch katholisch, wohnhaft in Abbach, (…). Er ist am 16. Oktober 1942 um 10 Uhr 05 Minuten in der Gemeindeflur Bad Abbach verstorben. Der Verstorbene war geboren am 21. März 1910 in Wolkorn, Kreis Olkusz. (…)[1]
Vater Winzenty Haberko verstorben. Mutter Marianna geborene Swidzinska verstorben. Der Verstorbenen war nicht verheiratet.
Eingetragen auf schriftliche Anzeige der Geheimen Staatspolizei Regensburg. Der Anzeigende —– Ein Druckwort gestrichen. Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben der Standesbeamte Frank. Todesursache Genickbruch.[2]
Dazu wäre noch Vieles zu sagen, aber über manches muss ich aus Rücksicht schweigen. Der geschichtlichen Wahrheit über diese Zeit war ich es schuldig, dass ich von diesem Erlebnis berichtete.
Wir sind mit den Streichen noch nicht am Ende. Anfangs April des Jahres 1945, man hörte von ferne bereits den Donner der alliierten Panzer und Kanonen, brachte die Post einen Einschreibbrief.
Er enthielt die Aufforderung an mich, dass ich in das Straflager nach Vilsbiburg einzurücken hätte.
Meine Mutter klemmte, wie üblich, das verhängnisvolle rote Papier mit Umschlag an das Türchen des Küchen Büfetts. Es folgte ein tägliches Rätselraten, was das sollte und was zu tun sei. Meine Mutter war ratlos und trostlos. Es könnten doch umgehend die Amerikaner oder sonst wer die Front zu uns bringen!
Eines Tages ging sie zur Post, um in einem Brief den Vater in Dänemark um Rat zu bitten. Das war sicherlich aussichtslos. Die Post wird bestimmt keine Feldpostbriefe mehr befördern. Aber da saß am Schalter das Fräulein Schmitt, bis zum Endsieg nationalistisch eingestellt: „Jetzt muss ihr Sohn ja ins Gefängnis“, sagte sie zur Mutter und grinste verräterisch. Mutter antwortete: „Mein Sohn wird nicht eingesperrt, lieber lasse ich mich einsperren.“
Aber so einfach war die Sache nicht und die Tage huschten nur so dahin.
In ihrer Not fragte sie den Ortspfarrer, was sie tun soll. Der Pfarrer riet, ich könne in seinen Keller kommen, und er werde mich verstecken. Es dauere nicht mehr lange, bis der Spuk zu Ende sei. Meine Mutter solle, falls sie gefragt werde, sagen, dass ich ins Lager abgereist sei. Kein Mensch könne beim obwaltenden allgemeinen Trubel mehr nachkontrollieren, ob sie die Wahrheit sage. Ich folgte seinem Rat, zog für drei Wochen in den Pfarrerkeller ein, wo mich die Pfarrersköchin mit Speis und Trank versorgte. Den „Gestellungsbefehl“ ertränkten wir in der Toilette.
Wie es weiter ging, können Sie in meinem Aufsatz „Wie ich selbst das Ende des zweiten Weltkrieges erlebte“ nachlesen.
[1] Geb. Reg. der Gemeinde Wolkorn Nr. 76/10.
[2] Standesamt Bad Abbach, Sterbematrikel Nr. 21 / 1942. Archiv 37.3.